Sanssouci: Vorschlag
■ Karneval feiern im Verein, ohne Alkohol und Zigaretten
„Wenn die allerletzten Blätter von den Bäumen fallen, die Kinder ihre liebevoll gebastelten Laternen ausführen und die Martinsgänse um ihr Leben bangen, eröffnen die Karnevalisten im Lande die berühmte fünfte Jahreszeit ...“ Im Gegensatz zu Hanna-Renate Laurien, die mit diesen poetischen Worten die diesjährige Session begrüßte, habe ich für Karneval überhaupt nichts übrig. Aber Berlin ist ja glücklicherweise eher ein Karnevals-Unort. Wieder einmal ist ein Rosensonntagszug geplatzt, der letzte fand ohnehin lange vor meiner Zeit, im Jahr 1958 statt. Zu wenig Sponsoren – also kein Geld. Allein die BSR forderte 60.000 Mark für die Straßenreinigung. Die 21 hiesigen Karnevalsvereine fristen das Dasein eines exotischen Pflänzchens, in der ganzen Stadt gibt es nicht mehr als 20 Tanzmariechen. Eine Zahl, die in jedem Kölner Mietshaus übertroffen wird. Sind die 3.000 Berliner Jecken etwa ausgewanderte Rheinländer, quasi in den Dreispitz hineingeboren? Oder gibt es tatsächlich den Preußischen Retortenkarnevalisten? „Das ist keine Mentalitätsfrage – die Berliner können natürlich genauso fröhlich sein wie die in Mainz oder Köln“, behauptet zumindest Reinhard Muß, Präsident des Berliner Carneval-Vereins e.V. 1968 und Vizepräsident des Landesverbandes Berlin (LBV).
Muß ist eigentlich per Zufall an seinen Verein geraten. „Am Rosenmontag 1967 sah ich diese Kanarienvögel – so nannte ich die gelb Uniformierten damals scherzhaft – in meiner Stammkneipe. Das war lustig, und wenige Wochen später wollte ich auch Mitglied werden.“ Ob das nicht eher etwas für die ältere Generation sei, frage ich den Präsidenten. „Unser Durchschnittsalter ist nicht so hoch, es liegt um die 40. Obwohl die älteste Teilnehmerin schon 67 ist. Aber die kann immer noch tanzen und ganz hervorragend die Trude Herr nachmachen“, schwärmt der 51jährige Industriemeister. Dann kramt er eine Videoaufzeichnung hervor: ein Tanzmariechen läßt die Beine über dem Kopf kreisen, ein extra aus Düsseldorf eingeflogener Büttenredner übt sich in Berliner Mundart, ein Stimmenimitator und ein Stimmungssänger gaben ebenfalls ihr Bestes. Doch Karnevalisten singen am liebsten selbst. Jede Region hat ihre Lieder, die gerne mal lokalpatriotisch sein dürfen. Die Berliner Melodie ist brandneu und wurde von einer Combo namens „Die 4 Schlawiner“ erdacht. „Hab' ich selber erst viermal gesungen“, entschuldigt sich Muß, der so spontan nur die erste Zeile des Stücks kann: „Kommste heut nicht, kommste morgen ...“ Apropos kommen. Neun Monate nach den Fastnachtstagen werden angeblich die meisten Kinder geboren. Ist da was dran? „Eine typische taz- Frage!“ Der Präsident ist entrüstet. „Unser Karneval ist sauber und anständig!“ Und wie steht's mit Alkohol und Zigaretten? Man hört, die Tanzmariechen dürften weder rauchen noch trinken. „Na hörense, ein Mädchen in Uniform mit Zigarette und Alkohol, das ist doch nicht schön! Glauben Sie denn, jeder, der gerne Karneval feiert, säuft auch? Meine Frau trinkt keinen Tropfen und ist trotzdem eine der Lustigsten.“ Na, dann wünsche ich „Heijo“, wie der Berliner sagt! Kirsten Niemann
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