: Jelzin: Armee reformbedürftig
■ „Vaterlandstag“ und „Tag der Vergeltung“
Moskau (AP) – Der russische Präsident Boris Jelzin hat gestern die Reformbedürftigkeit der Streitkräfte eingeräumt. Anläßlich des „Vaterlandstags“, der in Sowjetzeiten zur Herausstellung der Verteidigungsfähigkeit genutzt wurde, versprach Jelzin lange überfällige Verbesserungen bei der Ausbildung und der finanziellen Ausstattung der Streitkräfte. Er bestritt Berichte über von der Armee verübte Grausamkeiten in Tschetschenien. Dort wurde der „Tag der Vergeltung“ begangen, mit dem an die von Stalin befohlene Deportation der Tschetschenen und Inguschen nach Asien vor 51 Jahren erinnert werden sollte. Jelzin legte einen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten nieder. „Tschetschenien hat uns einmal mehr gezeigt, daß eine Militärreform überfällig ist“, sagte er vor Journalisten. Die Armee lasse Anzeichen von Schwäche erkennen. Es müsse alles getan werden, um das Vertrauen in sie wiederherzustellen, fügte der Präsident hinzu. Jelzin bestritt, daß russische Soldaten in Tschetschenien auf alte Leute schössen, daß sie Menschen als Schutzschilder benutzten oder Häuser in Schießstände verwandelten. Die Soldaten kämpften ehrenhaft, betonte er.
Unterdessen wies der ehemalige russische Ministerpräsident Jegor Gaidar bei einem Besuch im Nordkaukasus auf die Gefahren hin, die der seit zweieinhalb Monaten anhaltende Krieg zwischen Rußland und der abtrünnigen Föderationsrepublik berge. Der Krieg sei für eine moderne Armee nicht zu gewinnen, da es sich um einen Partisanenkrieg handle, sagte Gaidar.
Anläßlich des „Vaterlandstags“ einberufene Protestveranstaltungen in Moskau gegen den Krieg in Tschetschenien zogen nur wenige Demonstranten an. Auch in Tschetschenien waren bis zum Mittag keine Auswirkungen des am Mittwoch auf einem Volkskongreß in Kurtschaloi südlich von Grosny beschlossenen „Vergeltungstags“ zu spüren.
In Grosny zogen am Mittwoch Politiker ein, die Gegner von Präsident Dschochar Dudajew sind und von Moskau gestützt werden. Im stark von Kampfspuren gezeichneten Gebäude der Planungsbehörde bezog der neuernannte Oberbürgermeister Bislan Gantimirow Quartier. Sein Stellvertreter Ramsan Schapukajew berichtete, Grosny sei in 28 Bezirke aufgeteilt worden. Jeder Bezirk solle Wiederaufbauhilfe von 28 eigens dazu bestimmten russischen Städten erhalten.
Gestern sollte auch der Politiker Solambek Chadschijew ankommen, der bisher in Moskau eine Exilregierung der Nationalen Wiedergeburt leitete und künftig als Ministerpräsident Tschetscheniens fungieren soll. Chadschijew war früher sowjetischer Minister für die Chemische Industrie.
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