piwik no script img

„In einigen Jahren kommt das vielleicht raus“

Ein Brandanschlag auf eine türkische Familie in der Oberpfalz bleibt ungeklärt, weil die Behörden ausschließlich das Opfer verdächtigten. Der Mann wurde unterdessen freigesprochen. Neue Ermittlungen wird es nicht geben  ■ Von Bernd Siegler

Als Mehmet Güdük am 20. Oktober vor acht Jahren auf dem Flughafen München-Riem landete, war er froh. Er hatte sein Heimatdorf Reyhanli nahe Hatay in der südlichen Türkei verlassen, um zu seiner Frau Naciye in die Oberpfalz zu kommen. „Deutschland hat bei uns einen großen Namen. Jeder freut sich, hierherzukommen.“

Alles hatte so gut angefangen. Der heute 32jährige Mehmet Güdük folgte seiner Frau Naciye, die schon seit 1978 hier lebt und damals in der Porzellanfabrik Seltmann in Erbendorf arbeitete. Er fand eine Stelle, zwei Kinder wurden geboren. Jale ist heute acht, Hassan sieben Jahre. Als ihnen die täglichen 13 Kilometer zur Arbeitsstelle lästig wurden, bezogen die Güdüks Anfang 1993 in Erbendorf eine Sozialwohnung in einem neuen Mehrfamilienwohnhaus am Rand des 5.300-Einwohner-Städtchens. Im Haus klappte es gut. „Wir saßen immer mal zusammen, haben Kaffee getrunken, es war wie eine Familie.“ Die Güdüks waren glücklich.

Erbendorf liegt auf der Höhe eines Steinwald-Hügels. Unten im Tal die Porzellanfabrik, der größte Arbeitgeber. Eine Kastanienallee hinauf, vorbei am Kriegerdenkmal, geht es zur Ortsmitte – und am höchsten Punkt, die katholische Kirche. Eine Gegend, in der die heilige Messe fester Bestandteil des Sonntags ist und in der FußgängerInnen an der einzigen Ampel bei Rot auch dann eisern stehenbleiben, wenn weit und breit kein Auto zu sehen ist.

Anfang 1993 erhalten mehrere türkische Familien Drohanrufe. Manche wohnen schon seit 25 Jahren in Erbendorf. Eines Tages im Juni klebt bei den Güdüks außen am Badezimmerfenster ein Ausschnitt aus der Bild-Zeitung. Er zeigt das Foto der Leiche eines der in Solingen verbrannten Mädchen. Wenig später, in der Nacht vom 29. zum 30. Juni 1993, brennt es im Kinderzimmer der Güdüks lichterloh. Mehmet und Naciye haben ihre beiden Kinder nach wochenlangen Drohanrufen vorsorglich in ihrem Schlafzimmer schlafen lassen. Nur deshalb muß Erbendorf heute nicht in einem Atemzug mit Mölln und Solingen genannt werden.

„Ich wachte auf durch einen Krach, lief ins Kinderzimmer. In der Scheibe war ein Loch, am Boden brannte es, an der Wand klebte ein Feuer. Es machte ein Geräusch wie eine Luftpumpe“, erzählt Güdük der Polizei. Er sei dann zum Fenster gestürzt, habe einen Mann mit weißer Hose weglaufen sehen. Dann habe er seine Familie geweckt und das Schlafzimmerfenster mit einer Teekanne eingeschlagen, um ins Freie zu kommen. Anschließend habe er alle Hausbewohner alarmiert. Niemand der 24 Personen im Haus wurde ernsthaft verletzt, der Sachschaden beträgt 210.000 Mark. Bürgermeister Rudi Trastl, parteilos, bekennt, daß „in dieser Nacht für ihn eine Welt zusammengebrochen“ sei. „Wir waren doch ein Musterbeispiel eines harmonischen Zusammenlebens von Deutschen und Türken.“ Drei Wochen später jedoch ist Trastls Weltbild wieder in Ordnung. Ihm „fällt ein Stein vom Herzen“, daß der Täter nicht aus dem rechtsradikalen Lager kommt. CSU-Sprecher Hans Grünwald ist froh, daß die Stadt nun „von einem schlimmen Verdacht befreit“ sei, und die „Republikaner“ verteilen Flugblätter mit der Überschrift „Lichterketten für einen Brandstifter?“. Auch der örtliche Neue Tag nimmt es nicht mehr so genau und schreibt: „Opfer und Täter sind ein und dieselbe Person. Er wollte seine Versicherung betrügen... Er hat seine Tat kaltschnäuzig geplant.“

Was ist geschehen? Nach dreiwöchigen Ermittlungen verhaftet die Polizei Mehmet Güdük als mutmaßlichen Brandstifter. Sie stützt sich dabei auf ein Gutachten des Landeskriminalamtes (LKA), wonach die Scheiben des Kinderzimmerfensters nicht von außen, sondern von innen eingeschlagen worden wären. Diesen 22. Juli 1993 wird Mehmet Güdük wohl so schnell nicht vergessen. „Die Polizei kam und nahm mich mit nach Weiden, ich wurde fünf Stunden lang verhört, dann kam ich ins Gefängnis.“ In Untersuchungshaft bleibt er neun Monate lang. „Jeden Tag, wenn der Beamte mit dem Schlüssel kam, dachte ich, jetzt bist du frei.“ Er erzählt, was er weiß, will mit der Polizei zusammenarbeiten, will, daß der Täter gefaßt wird.

Nur über die Berichte seiner Frau bekommt er mit, was zu Hause vor sich geht. Schon zuvor war ihm nicht entgangen, daß sich die Stimmung in Erbendorf gegen ihn gewendet hatte. Kaum waren die Hausmitbewohner von den Beamten der dreißigköpfigen Sonderkommission vernommen worden, wollte keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben. Im Ort kursierten Gerüchte. Er hätte Spielschulden, in seiner alten Wohnung hätte es bereits mehrfach gebrannt. Noch bevor er verhaftet wurde, war den ErbendorferInnen klar: Güdük war es selbst.

Dem evangelischen Pfarrer Klaus Rettig flattern nach Güdüks Verhaftung Schmäh- und Drohbriefe ins Haus. Er hatte kurz nach dem Brand einen Schweigemarsch mit 600 TeilnehmerInnen organisiert. „Wer kennt Pfarrer Rettig, diesen Hurensohn? Dieses räudige Schwein wurde wie viele andere in die Kartei aufgenommen“, heißt es in den Briefen. Die Polizei interessiert sich dafür nicht. Rettig beantragt eine Fangschaltung. „Kaum ist die eingerichtet, hören die Drohanrufe auf“, berichtet der Pfarrer und denkt sich sein Teil. Er erinnert sich, daß ihn die Polizei bereits einen Tag nach dem Brand vor einer Protestdemonstration gewarnt hat. Man habe eindeutige Hinweise auf Güdüks Täterschaft, hieß es. Zusammen mit seiner Frau Claudia verbringt Klaus Rettig viel Zeit, um den Güdüks zu helfen. „Es ist schon gespenstisch, wie in einer Ortschaft durch bloße Gerüchte eine derartige Pogromstimmung entstehen kann.“ Obwohl die Rettigs längst aus Erbendorf weggezogen sind, läßt ihnen der Fall keine Ruhe. „Ich komme mir schon vor wie ,Pater Brown‘“, sagt der Pfarrer.

Nach neun Monaten kommt es zum Prozeß. Mehmet Güdük hat die besten Anwälte engagiert. Steffen Ufer aus der Kanzlei Bossi in München und Burkhard Schulze aus Weiden. Vor Beginn des Verfahrens verkünden die: „Wir gehen davon aus, daß die Ermittlungen eine Fehlleistung der Polizei sind.“ Sie sollen recht behalten. Das von der Staatsanwaltschaft unterstellte Motiv, Versicherungsbetrug und Spielschulden, bricht in sich zusammen. Güdük hatte seine Einrichtung neu gekauft, er hätte nur den Beschaffungswert zurückbekommen. Zudem konnten Zeugen bestätigen, daß er dem damals kursierenden Gerücht geglaubt hatte, die Versicherung zahle bei Anschlägen nur 15 Prozent der Versicherungssumme. Beim Spielen verlor er höchstens mal 50 oder 100 Mark. Und die früheren Brände erwiesen sich als elektrischer Defekt in einem Wäschetrockner.

Doch erst die Scherben bringen Mehmet Güdük Glück. Es stellt sich heraus, daß die am Tatort aufgesammelten Splitter des Kinder- und Schlafzimmerfensters auf dem Weg zur Untersuchung im LKA vertauscht und dort dann zusätzlich falsch beschriftet worden waren. Damit ist die Behauptung der Staatsanwaltschaft, draußen hätten mehr Scherben gelegen als drinnen, nicht belegbar. Dies sollte der Beweis sein, daß das Fenster nicht von außen durchschlagen worden sei, weshalb Güdük den Brand selbst gelegt haben müsse. Letztendlich schließt ein von der Verteidigung beantragtes Gutachten des Bundeskriminalamtes (BKA) – im Gegensatz zum LKA – eine Brandstiftung von außen nicht aus: „Eine Brandentstehung in einem Zimmer durch von außen gezündete und abbrennende Signal- und Leuchtmunition ist grundsätzlich möglich.“

Obwohl von der Anklage nur ein Scherbenhaufen übrigbleibt, ist für Staatsanwalt Hermann Sax die Sache klar. „In Erbendorf gibt es kein radikales Umfeld“, behauptet er und beantragt sieben Jahre Haft für Güdük. Dessen Anwälte beantragen Freispruch. „Was soll ich sagen? Ich bin unschuldig!“ ist das letzte Wort des Angeklagten.

Am 11. April 1994 spricht Richter Gerd Dreythaller Mehmet Güdük aus Mangel an Beweisen frei. „Die Hauptverhandlung konnte die Einlassung des Angeklagten, der Brand sei durch Fremdeinwirkung gelegt worden, nicht widerlegen“, begründet er sein Urteil. Die Kammer habe „von einer nicht ausschließbaren Ermittlungspanne ausgehen“ müssen, zudem gebe es „kein erkennbares und nachvollziehbares Motiv“. Während Güdük überglücklich ist, verlassen die ErbendorferInnen enttäuscht den Gerichtssaal.

Der Freispruch ändert an der Situation der Güdüks nichts. Sie müssen aus Erbendorf weg, über Beziehungen finden sie in der Nähe eine Wohnung. Naciye arbeitet nach wie vor bei Seltmann. „Ich fahre nur zum Arbeiten nach Erbendorf. Die Pause arbeite ich durch, denn niemand spricht mehr mit mir. Dann fahre ich wieder nach Hause“, erzählt sie traurig.

Mehmet hatte fünfeinhalb Jahre bei der Firma MP in Erbendorf zur Zufriedenheit seiner Chefs gearbeitet. Nach seiner Verhaftung erhält er die Kündigung. Ihm zustehendes Kranken- und Urlaubsgeld bekommt er nicht ausbezahlt. Mittlerweile arbeitet er bei einer anderen Firma als Schweißer. Er macht Überstunden, schließlich haben die neue Wohnungseinrichtung nach dem Brand und die teuren Anwälte Schulden von 100.000 Mark aufgetürmt. Mit der Entschädigung von 20 Mark für jeden Tag U-Haft kommt er da nicht weit. Auch seine Hausratversicherung hat trotz des Freispruchs bis heute nicht bezahlt.

Nach Erbendorf wollen die Güdüks nicht mehr zurück. Am 20. September 1994 brennt es dort erneut. Drei Männer zwischen 20 und 22 Jahren aus dem Ort und der Umgebung schleudern dilettantisch hergestellte Molotowcocktails gegen ein Wohnhaus im Rohrmühlenweg. Dort wohnen 22 türkische Familien. Zufällig findet ein Bewohner die glimmenden Brandsätze, es entsteht nur leichter Sachschaden. Die Polizei weiß, wo sie suchen muß. Sie findet die Täter in der Baracke, in der sie sich immer treffen. Eine Deutschlandfahne ist aufgezogen, und grüßen mußte man, so erzählen Jugendliche, mit „Heil Hitler!“. Trotzdem heißt es wieder: „kein rechtsradikaler Hintergrund“. Die Männer werden auf freien Fuß gesetzt. Erst als der aus Nürnberg angereiste Generalkonsul der türkischen Botschaft in Erbendorf erscheint, werden sie auf Weisung der Staatsanwaltschaft wegen Fluchtgefahr festgenommen.

Im November 1994 verurteilt Richter Dreythaller das Trio zu Freiheitsstrafen bis zu zweieinhalb Jahren ohne Bewährung. Sie hätten „gezielt Angst und Schrecken verbreitet“. In Erbendorf denkt man anders. Für den Verwaltungschef Adolf Kreuzer sind sie schlichtweg betrunkene „Lausbuben“. Der 56jährige spricht vom „sogenannten Brandanschlag“. Man habe „ja das Feuer beinahe anblasen müssen, daß was passiert ist“. Und bei den Güdüks: „Er ist zwar freigesprochen worden, aber jeder hat darüber geschmunzelt.“ Kreuzer lehnt hinter dem Tresen der Verwaltungsstelle und schmunzelt: „Er hat halt gute Anwälte gehabt.“ Mehr will er nicht sagen. Nur im Hinausgehen noch: „Es gibt hier keine Ausländerfeindlichkeit.“

„Wir waren fast froh, daß es noch mal gebrannt hat“, schildern Mehmet und Naciye ihre erste Reaktion auf den Brand im Rohrmühlenweg. Bis heute hat sich niemand bei ihnen wegen der Gerüchte und Vorverurteilung entschuldigt. „Wir wollen daß die Täter gefaßt werden.“ Neue Ermittlungen? „Wir wissen nicht, in welcher Richtung wir ermitteln sollen, der Fall ist abgeschlossen“, sagt Weidens Kripo-Sprecher Josef Seebauer. Auch für Oberstaatsanwalt Lutz Höbold spricht alles dafür, daß Güdük der Täter sei. Neue Ermittlungen wären „vergeudete Zeit und verschwendetes Geld“.

Immer wieder denkt Güdük an das Feuer. Die helle heiße Flamme, die an der Wand klebt, das Loch im Fenster, das zischende Geräusch. Immer wieder liest er den letzten Satz im Gerichtsurteil: „Ob im vorliegenden Brandfalle ein Brandanschlag mit Leuchtmunition erfolgt ist, kann nicht abgeschätzt werden, da über die Wirkung derartiger Munition beim Auftreffen auf Fensterscheiben keinerlei Erkenntnisse des Bundeskriminalamtes vorliegen.“

Leuchtmunition in Erbendorf – für Polizei und Staatsanwalt eine „abwegige Theorie“. Experten bei den Munitionsherstellern Dynamit-Nobel in Troisdorf und Feistel im hessischen Gölldorf finden das nicht: „Das kann ich mir gut vorstellen, daß Signalmunition mit einem Kaliber von 26,5 mm, abgeschossen aus einer Entfernung von fünf bis zehn Metern, durch eine Doppelverglasung glatt durchgeht“, sagt Ernst Ebel, Munitionsexperte von Feistel. Die Magnesiummischung erziele eine hohe Oberflächentemperatur von bis zu tausend Grad, da könne man durchaus etwas in Brand schießen. „Zurück bleiben keine Rückstände.“ Und – es wäre nicht das erste Mal, daß ein Brandanschlag in den letzten beiden Jahren mit Leuchtmunition verübt wurde.

„In ein, zwei oder zehn Jahren kommt das raus“, hofft Mehmet Güdük. Vor vier Wochen wurde ihr drittes Kind, Emine, geboren. „Sie ist unser Kind der Freiheit“, erzählen Mehemt und Naciye voller Stolz. „Wir haben viele Bekannte verloren. Nur noch ein paar Freunde blieben übrig, das sind aber sehr gute“, läßt Naciye die letzten beiden Jahre Revue passieren. „Wir bleiben aber auf jeden Fall in Deutschland. Menschen, die so etwas machen, sollen keinen Erfolg haben.“ Wie immer läuft bei den Güdüks der Fernsehapparat. Bei jedem Geräusch draußen schreckt Mehemt Güdük hoch und geht ans Fenster. „Die Angst ist immer da, aber die Rollos schließen gut.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen