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Onkel Giulio und die Wiederkehr der Angst

Vor dem Mafia-Prozeß gegen Ex-Ministerpräsident Andreotti kippt in Siziliens Städten die Stimmung  ■ Aus Palermo Werner Raith

Die Rampe hinaufrasen, mit quietschenden Reifen bremsen, die Eskorte-Beamten herausspringen lassen und dabei das Umfeld nach vorne und über die Rückspiegel des Alfa Romeo im Auge behalten – wie oft Vito Bergamo, genannt Vituzzo, in dieser Manier vor dem „Palazzo di giustizia“ vorgefahren ist, konnte er schon nach einem Jahr nicht mehr zählen: „oft fünf- bis sechsmal am Tag, wenn der Untersuchungsrichter Falcone oder einer vom ,Pool antimafia‘ mal im Gefängnis Ucciardone Verhöre durchführte, dann zu einem Geständigen in dessen Versteck mußte und danach wieder zurück ins Amt sauste“.

Aber nicht nur Italiens berühmtesten Gangsterfänger mußte Vituzzo schützen, auch in der Eskorte des Oberbürgermeisters Leoluca Orlando oder beim aufmüpfigen Jesuitenpater Ennio Pintacuda leistete er teils Chauffeurdienste, teils schob er Wache vor deren Wohnung oder ihrem Amt. „Ein Leben auf dem Vulkan“, sagt Vito, „und das läßt einen auch jetzt, wo ich nicht mehr im Dienst bin, nicht mehr los.“ Er hat seinen Job an den Nagel gehängt, als ihm klar wurde, wie wenig der Staat als Gegenleistung für das tägliche Risiko zu geben bereit ist – die Behandlung der Witwen im Dienst umgekommener Eskortepolizisten hat ihm gezeigt, daß wir „so etwas wie ein modernes Kanonenfutter sind. Bei der Beerdigung starke Worte, danach peinlich bürokratische Berechnung der Rente. Und die reicht nicht einmal, um die Miete zu bezahlen.“

Noch immer darf er niemandem seinen Klarnamen nennen – Vito Bergamo ist sein Deckname – viele Dienstaufträge gelten als Staatsgeheimnis, und die Freundschaft zu einem Journalisten bewegt sich schon an der Grenze zum Verbotenen.

Vito steht vor dem Justizpalast und guckt sich an, was da so abläuft: Hunderte von Menschen drängeln sich am Eingang unter der aufragenden Säulenarchitektur aus faschistischer Zeit. „Sicherheitsmäßig eine Sauerei“, sagt er, „zu meiner Zeit war da geräumt, wenn auch nur ein Eskorteauto vorfuhr.“ Derzeit herrscht eine Art Belagerungszustand: alles wartet auf jenen, um den es seit Wochen hier geht und der doch nicht kommt: „Zio Giulio“, wie er im Mafiajargon geheißen haben soll, Onkel Giulio, bürgerlich Giulio Andreotti, 76, siebenmal Ministerpräsident der Republik Italien, 33mal Minister. Und nach Ansicht der Staatsanwaltschaft Palermo ein derartiger Förderer der Cosa Nostra, daß er nun wegen mafioser Bandenbildung vor Gericht steht. Aus Rom kommt dazu auch noch eine Anklage wegen Anstiftung zum Mord. Noch geht es hier darum, ob und wo überhaupt das Gerichtsverfahren eröffnet wird.

Bereits dreimal wurde vertagt, seit Oktober 1994: die Verteidigung sucht den Prozeß von Palermo loszueisen und nach Rom zu bekommen – dort sind die Gerichte, zumindest in den höheren Instanzen, noch immer mit Juristen besetzt, die Andreotti oder seinen Vasallen ihren Posten verdanken. Insbesondere den „Tribunale dei ministri“ hätten die Verteidiger gerne eingeschaltet, das Ministergericht, das ausschließlich Vergehen und Verbrechen diensthabender Regierungsmitglieder aburteilen soll. Da aber im diesbezüglichen Passus der Verfassung nicht ganz klar ist, ob dieses Spezialgericht für alle Schandtaten zuständig ist, die ein Minister oder Staatssekretär während seiner Dienstzeit begangen hat, oder ob es nur jene Verfehlungen aburteilen darf, die der Politiker unter Ausnützung seines Amtes begangen hat, wird sich die Sache sicher noch eine Weile hinziehen, selbst wenn sich der palermische Gerichtshof diese Woche für zuständig erklären sollte.

Vituzzo jedenfalls findet „alles zum Kotzen“: auch er gehörte zeitweilig zur Eskorte Andreottis, „und nun müssen wir erfahren, daß wir genau den Halunken geschützt haben, der mit jener Sippe zusammensteckt, die Falcone umgebracht hat“. Dafür spricht vieles; insbesondere, daß Sendboten Andreottis sogar versucht haben, Vitos Kollegen zu Falschaussagen zu verleiten, um ein Alibi zu konstruieren. Um die vom ehemaligen Chauffeur des obersten Mafiabosses Toto Riina aufgestellte Behauptung, Andreotti habe sogar während seiner Amtszeit Riina getroffen (und mit diesem den rituellen Mafiosi-Wangenkuß getauscht), zu widerlegen, hatte Andreotti gesagt, er sei doch rund um die Uhr eskortiert worden, habe sich also der Beobachtung gar nicht entziehen können. Doch just zur „Kuß“-Zeit klafft ein Loch von drei Stunden, währenddessen Andreotti im Privatauto eines mafianahen Unternehmers herumfuhr – und genau dieses Loch sollten die Eskortebeamten mit einer nachträglichen Protokolländerung stopfen. „Che vergogna“, sagt Vituzzo. „Gehen wir.“

Am Theater Verdi vorbei, das seit urdenklichen Zeiten mit immer neuen Mitteln restauriert wird und doch zwei Jahrzehnte lang geschlossen blieb, geht es hinunter Richtung Hafen, dann biegt er aber doch ab, in die Via Notarbartolo. Noch immer steht da vor der Wohnung des ermordeten Giovanni Falcone die Magnolienfeige, die zum „Albero di Falcone“ wurde: bis zum Wipfel hinauf hängen Kärtchen und „Geschenke“ an den toten Richter, es mögen bereits an die tausend sein. „Die Ältesten sind die in Augenhöhe“, sagt Vituzzo, „die wurden noch am Abend des Mordes hingehängt“, im Mai 92; Zettel mit Verzweiflungssätzen wie „Hier lebte die Hoffnung Palermos“, „Giovanni, Dein wird der Sieg am Ende doch noch sein“, „Wir rächen Dich“. Manche davon sind vergilbt, an manchen wurde die Schrift offenbar immer mal wieder nachgezogen. „Dann kamen die unteren Äste dran, dann immer höhere, da mußte man mit langen Stäben die Schnüre anhängen.“ Die meisten der „Targhe“ ganz oben sind kaum zu lesen, doch deutlich ist in aufsteigender Linie die zunehmende Verklärung Falcones: „Giovanni, bitt im Himmel für mich“, steht im oberen Drittel zu lesen. Mehrere Antimafiaorganisationen und auch einige Priester haben vor wenigen Tagen gefordert, von der Mafia umgebrachte Ermittler heiligzusprechen.

„Und dennoch, trotz dieser Volksbewegung nach dem Tod Falcones“, sinniert Vituzzo weiter, „irgendwie breitet sich unterschwellig derzeit wieder mächtig Angst in Palermo aus.“ Gut zwei Jahre lang, seit die Regierung siebentausend Mann vom Heer zum Objektschutz auf die Insel geschickt hatte und so die Polizisten und Carabinieri wieder für Ermittlungs- und Fahndungsarbeit frei wurden, fühlte man sich in den Städten Siziliens geradezu geborgen. Selbst in Corleone im Inselinneren, wo die brutalsten und gefürchtetsten Mafiosi herstammen – vom vor eineinhalb Jahren im Gefängnis verstorbenen Lucaiano Liggio über den 1993 verhafteten Toto Riina bis zu dessen noch immer nicht erwischten Nachfolgern Bernardo Provenzano und Leoluca Bagarella –, selbst in Corleone also konnte man in den Bars und auf den Piazze unbefangen über die Mafia sprechen, war sicher vor Straßenräubern und sah, daß die massiven Eisenläden mitunter die ganze Nacht offenblieben. „Das ist alles schon wieder vorbei“, sagt Vituzzo und weist auf gleich mehrere Geschäfte in der Viale della Liberta, der Prachtstraße der Noblen im Herzen Palermos, bei denen gerade neue Sicherheitsanlagen eingebaut werden. „Wir leben in der Ruhe vor dem Sturm: die Mafia hat ihre übliche ,pax mafiosa‘ ausgerufen, wie immer, wenn große Gerichtsverfahren anstehen, aber kaum sieht sie, daß die Prozesse in ihre Richtung laufen, wird die Ballerei wieder losgehen. Wirst sehen.“

Neben dem Prozeß gegen Andreotti steht da vor allem jener über das 500-Kilo-Dynamit-Attentat gegen Richter Falcone, seine Frau und seine Eskorte an. Er wird in Caltanissetta abgewickelt, das in Fällen, in denen es um Richter geht, als zu Palermo benachbarter Gerichtsbezirk zuständig ist. Eine Provinzstadt nahezu in der Mitte der Insel, die lange Zeit immer wieder mal unrühmlich bekannt wurde: „Die haben da so ziemlich alle Gangster freigesprochen, die wir vorher mühselig gefangen hatten“, erinnert sich Vituzzo auf der Fahrt dorthin: „Die Oberrichter in Rom waren von Andreotti abhängig, und in engem Zusammenspiel mit denen haben die Gerichtshöfe in Caltanissetta dann die Urteile der Instanzen aus Palermo revidiert, als die seit Anfang der 80er Jahre energischer wurden. Am Ende wurden dann meist nur ein oder zwei Handlanger verurteilt, die Auftraggeber aber freigelassen.“ Und schlimmer noch: „Am Ende wurde gar noch der Vorsitzende dieses Gerichts zum Chef des Antimafia-Pools in Palermo gemacht, nur damit Falcone den Posten nicht bekam.“ Tatsächlich begann die Isolierung Falcones nach Meinung aller Experten just mit der Ankunft des Gerichtspräsidenten Meli in Palermo – 1990 quittierte Falcone den Dienst bei der Staatsanwaltschaft und ließ sich ins Justizministerium versetzen, was die Rache der Mafia aber nicht mehr verhinderte.

Auf der Fahrt zeigt Vituzzo all die Stellen, wo Ermittler getötet wurden, häufiger aber noch, wo die Mörder wohnten und ihre Angehörigen die von diesen angehäuften Güter noch heute ungestört genießen können: Villabate, Casteldaccio, Bagheria, das sogenannte Todesdreieck, wo mitunter innerhalb von zwei Wochen 15 Menschen ermordet wurden; Termini Imerese, wo einige der Oberbosse derzeit einsitzen; Lercara Friddi, Geburtsstadt des legendären Lucky Luciano; Mussomeli und Villalba, wo sich die Mafia mit Hilfe der US-Amerikaner in der Nachkriegszeit wieder so richtig reorganisiert hat; San Cataldo, wo die Mönche eines Klosters längere Zeit mafiose Beutestücke verwahrten. Grauenhafte Erinnerungen inmitten einer wunderschön frühlingshaft aufblühenden Gegend, die von weichen voralpenähnlichen Hügeln in immer steilere, in den Höhen karstige Gebirgslandschaften übergeht.

In Caltanissetta ist die Angst, die Sizilien wieder überfällt, noch deutlicher zu spüren als in Palermo – vielleicht war sie hier auch weniger zurückgegangen als in der regelrecht von Ordnungskräften besetzten Hauptstadt der Insel. Journalisten werden kurzerhand mit „Dreckspack“ abserviert, bevor sie überhaupt eine Frage stellen können; hält ein Auto mit auswärtigem Kennzeichen, rasseln an den Häusern mitunter blitzschnell die Läden herunter. In den Bars werfen sich die Alten bezeichnende Blicke zu, wenn Fremde eintreten, und selbst die harmlose Frage, wie man auf den Zubringer zur benachbarten Provinzhauptstadt Enna kommt, provoziert zuerst mal hartes Nachdenken, ob man darauf Auskunft geben soll.

Obwohl der Falcone-Prozeß vorige Woche auf Mitte April vertagt wurde – um Verteidigern inzwischen zusätzlich erwischter Helfershelfer und Auftraggeber des Mordes Zeit zum Aktenstudium zu geben –, ist der Justizpalast von schwerbewaffneten Polizisten und Soldaten abgeriegelt: „Die fürchten sozusagen rituelle Anschläge, die die Lebendigkeit der verbliebenen Cosa-Nostra-Banden belegen sollen“, kommentiert Vituzzo.

Hat der Staat den Kampf wieder einmal verloren? Vituzzo schüttelt den Kopf, nickt, schüttelt ihn wieder. „Er kann ihn nie gewinnen, niemals. Das heißt aber auch nicht, daß er ihn unbedingt verlieren muß. Es bedeutet, daß man unentwegt weiterkämpfen muß, immer wieder von neuem. Die Mittel und die Phantasie der Mafiabanden sind unerschöpflich. Geht ihnen ein Strang ihrer Geschäfte verloren, haben sie schon längst für andere Branchen vorgesorgt; erwischen wir einen ihrer Helfer, haben sie schon ein Dutzend anderer parat.“ Dann gibt er sich einen Ruck, wie um sich Mut zu machen: „Und trotzdem: Seit die Justiz Personen wie Andreotti vor Gericht zerrt, ist die Irritation bei den Mafiosi unverkennbar. Sie wissen: so hundertprozentig wie Andreotti wird sich ihnen nie mehr ein Top-Politiker ausliefern. Und das ist wohl auf längere Sicht die einzige Chance, die Mafia wenigstens etwas zu reduzieren, wenn man sie schon nicht ausrotten kann.“

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