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„Wir müssen einfach aufholen“

In Estland wird am Sonntag ein neues Parlament gewählt / Die Hauptstadt blüht, das Land verarmt / Über dreißig Parteien stellen sich zur Wahl  ■ Aus Tallinn Reinhard Wolff

„Ich habe mir nie vorstellen können, jemals wieder kommunistisch zu wählen. Aber wahrscheinlich tu ich's schon diesmal wieder.“ Gunta, die im zweiten Stock von Tallinns Museumsturm „Kiek in de Kök“ den zu dieser Jahreszeit noch recht seltenen TouristInnen das Licht an- und ausknipst, damit diese die alten Kanonen besser sehen können, legt ihr Strickzeug zur Seite: „Auf ehrliche Weise verdienen sie ihr Geld nicht, die mit den dicken Westwagen, aber die da drüben interessiert das nicht. Stecken ja alle unter einer Decke.“

Da drüben, ins neu angestrichene Parlamentsgebäude am Domplatz gleich um die Ecke, drängen zu den Wahlen am kommenden Sonntag nicht weniger als 31 Parteien auf die 101 Sitze. Eine reiche Auswahl für die 1,5 Millionen EinwohnerInnen Estlands.

Gunta hatte große Hoffnungen in das neue Estland. Sie hat nicht nur perfekt Englisch gelernt, „weil ja kein Tourist Estnisch versteht oder mehr russisch spricht“, und hat bei den letzten Wahlen die „Vaterlandspartei“ gewählt, die in den vergangenen Jahren meist das Sagen hatte „da drüben“ – und die bei ihrem Versuch, Estland im Eiltempo zum Wirtschaftswunderland zu machen, gerade RentnerInnen, Familien mit Kindern, vor allem aber das gesamte ländliche Estland „vergessen“ hat.

Schaut man die Zahlen der Statistik an und hört die lobenden Worte aus dem Westen, vom Internationalen Währungsfonds, von der OECD, sieht man nur Erfolge: Die Bauwirtschaft boomt, das Bruttonationalprodukt wächst, und als einziges Land aus der Ex- Sowjetunion hat Estland eine knallharte Währung: fest an den Wechselkurs der D-Mark gebunden. Das funktioniert aber nur um den Preis einer hohen Inflation – 45 Prozent im letzten Jahr – und dadurch, daß man immer mehr Menschen aus dem sozialen Netz herausfallen läßt und hofft, daß die alten Familienstrukturen sie schon auffangen.

„Have a nice day“ – halb Tallinn scheint sich in Sprachkursen ein perfektes Englisch zugelegt zu haben. Skandinavische Konzerne haben Marktnähe und traditionelle Handelsbeziehungen ausgenutzt und sind auffallend präsent im Straßenbild und in den Regalen: die norwegische „Statoil“ und die finnische „Neste“ sind dabei, sich den gesamten Tankstellenmarkt schwesterlich aufzuteilen.

Doch wenige Kilometer außerhalb Tallinns Richtung Südosten, weg von der Hauptstraße mit ihren Würstchenbuden und „Baars“, scheint sich nichts geändert zu haben. Auf dem Land, wo immerhin noch über 30 Prozent der Bevölkerung leben, sind Apathie und Frustration noch weit ausgeprägter als in den Städten.

Auffallend viele Bauernhöfe stehen leer, Scheunen, Ställe und viele der alten Kolchosgebäude verfallen. Tönu Ojamaa, stellvertretender Vorsitzender der Bauernpartei, sagt: „Die Bauern hatten so auf die Selbständigkeit gehofft. Und jetzt werden sie immer mehr zwischen einer unbeweglichen, viele sagen: korrupten Bürokratie und einer katastrophalen Landwirtschaftspolitik zerrieben.“

Estland kennt keinerlei Importzölle für den Schutz seiner landwirtschaftlichen Produkte. Der feste Wechselkurs und die hohe Inflation machen es mittlerweile billiger, Mehl aus den USA zu kaufen als von den eigenen Bauern: das kostet nicht einmal die Hälfte.

360 Kolchosen gab es zu Sowjetzeiten. 10.000 selbständige Bauern lautet die offizielle Erfolgsrechnung der bisherigen Privatisierung. Doch gehören dazu Landwirtschaften von nicht mehr als zwei bis drei Hektar: größere Gärten, aber keine Bauernhöfe. Und der überwiegende Teil des Bodens steht nach wie vor in Staatseigentum. „Plötzlich tauchen Leute aus der alten Nomenklatura auf“, beschreibt Tönu Ojamaa den aktuellen Fortgang der Privatisierung, „haben irgendwelche Dokumente, picken sich die besten und größten Stücke heraus. Und sie haben vor allem Geld zum Investieren.“ Das können die Kleinbauern nicht – bei Zinsen zwischen 30 und 60 Prozent.

2.000 landwirtschaftliche Betriebe könnten überleben, so die eigene Schätzung der Regierung. Die meisten Bauern auf dem Land können sich schon jetzt ausrechnen, daß sie nicht mehr lange weitermachen können. Nein, links würden die Bauern nicht wählen, glaubt Ojamaa: „Sie werden gar nicht wählen.“

Die alte Nomenklatura, die zu Sowjetzeiten im System mitarbeitete, nicht aber in der Partei, scheint am weichsten gefallen zu sein. Die alten Verbindungen funktionieren. Sie kaufen sich nicht nur auf dem Land die Filetstücke zusammen, sondern sind überhaupt die „Bizness“-Leute mit genug flüssigem Geld.

Ihren Parteien, nicht wie im Nachbarland Litauen den Altkommunisten, werden auch die besten Wahlchancen vorhergesagt. Zwei Namen fallen in erster Linie: Arnold Rüütel und Tiit Vähi. Rüütel, „damals“ Mitglied des estnischen Obersten Sowjet, zielt mit seiner „Landvolk“-Partei auf die Unzufriedenen auf dem Lande und den älteren Teil der Bevölkerung. Der Umbau der Gesellschaft geht viel zu schnell, viel zu viele bleiben auf der Strecke, ist seine Botschaft.

Ganz ähnlich argumentiert Ex- Premierminister Tiit Vähi, Vorsitzender der „Sammlungspartei“, die sich zusammen mit Rüütels „Landvolk“, zwei weiteren Bauernparteien und einer Rentnerpartei zu einem Wahlverband zusammengeschlossen hat – einer von sieben verschiedenen Wahlverbänden, zu denen sich 22 der 31 Parteien verbunden haben, um angesichts einer 5-Prozent-Sperrklausel ihre Chancen, ins Parlament zu kommen, zu verbessern. Im estnischen Parteienspektrum gilt Vähis Sammlung als „links“, weil alles, was das Steuersystem umbauen und den Run zur Marktwirtschaft verlangsamen will, als links gilt.

Deshalb bilden logischerweise die Sozialdemokraten des jetzigen Übergangspremierministers Andres Tarand zusammen mit der Agrarpartei einen als „gemäßigt“ geltenden Wahlverband. Rechts von ihnen steht die bislang führende „Vaterlands“- und die „Selbständigkeitspartei“. Ein eigenes Wahlprogramm gilt schon zur Luxusausstattung in der Parteienlandschaft: Viele stellen nur eine Wahlorganisation dar, die sich um eine bekannte Persönlichkeit gesammelt hat. Ein Platz im Parlament ist allein schon deshalb begehrt, weil Abgeordneter zu sein zu den bestbezahlten Berufen zählt, die Estland gegenwärtig zu bieten hat.

Einer, der es mit seiner „Reformpartei“ ohne Wahlverband versucht, ist Siim Kallas, Chef der estnischen Reichsbank. Er ist der, der in den letzten Jahren die Lorbeeren einstrich, wenn Estland wegen seiner Marktwirtschaftspolitik gelobt wurde. Nun würde er am liebsten auch noch Ministerpräsident werden. Seine erst im November gegründete Partei ist so etwas wie ein Senkrechtstarter dieser Wahlkampagne geworden: Aus dem Stand ist sie zur drittgrößten avanciert. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß die Partei über auffallend viele Gelder zu verfügen scheint, mit denen man bei Anzeigen, in TV-Spots und auf Plakatwänden richtiggehend klotzen kann.

„Wir müssen ganz einfach aufholen, mit dem Westen gleichziehen“, beschreibt Kallas seine politische Philosophie. „Wir brauchen schnelles Wachstum, müssen für Investoren gute Geschäfte bieten können.“ So kann man ausländischen JournalistInnen seine Politik erklären – nicht aber den WählerInnen in Estland. In ihren Fernsehspots spricht die Reformpartei ganz abstrakt von höherem Wohlstand, davon, daß es allen bald besser gehen werde.

Weggelassen wird die Botschaft an die Auslandsmedien: „Es darf nicht mehr so viel gratis sein, wie jetzt noch. Warum soll man für höhere Ausbildung nicht selbst zahlen müssen? Wir dürfen nicht den Fehler der skandinavischen Staaten machen: für soziale Sicherheit muß jeder selbst zahlen.“

Kleinigkeiten wie die Geldbeutel von Gunta, Heino und den anderen RentnerInnen interessieren den Zentralbankchef in seinem Zukunftsgemälde weniger: „Wir brauchen einen starken Aktien- und Kapitalmarkt, einen starken Grundstücksmarkt.“

Siim Kallas' Botschaft für die oberen Zehntausend wird als so erfolgversprechend eingeschätzt, daß mittlerweile eine Reihe bekannter Gesichter zu seiner Reformpartei übergewechselt sind. So auch der Finanzminister der noch amtierenden Regierung, Andres Lipstok. Ob ein Zentralbankchef nicht eigentlich politisch neutral sein sollte? „Nein, was hilft politische Enthaltsamkeit, wenn dann Leute an die Macht kommen, die die erfolgreiche Politik der Zentralbank gefährden.“

Damit meint Kallas nicht nur die Parteien von Tiit Vähi und Arnold Rüütel, die kräftig auf die Bremse treten wollen, sondern auch den hinter diesen führenden Parteien derzeit zweitpopulärsten Wahlverband von Agrarpartei und Sozialdemokraten, die eigentlich „nur“ ein wenig mehr soziale Rücksichtnahme im Privatisierungsprozeß fordern. Und natürlich sowieso die „eigentlichen“ Linken, den Wahlverband „Gerechtigkeit“, mit der exkommunistischen „Demokratischen Arbeiterpartei“ an der Spitze, und die Parteien der russischen Minderheit, versammelt im Wahlbündnis „Unser Heim ist Estland“.

Wahlberechtigt sind unter den russischstämmigen BürgerInnen nur solche, die die estnische Staatsangehörigkeit erhalten haben. Nach wie vor ist das nur ein Bruchteil – knapp 50.000 der 770.000 Wahlberechtigten Estlands – der 30-Prozent-Minderheit. Dem russischen Parteiverband wird der Sprung über die 5-Prozent-Sperrgrenze vorhergesagt, aber mehr als eine Außenseiterrolle wird er im Parlament nicht spielen können. Die Zeit für eine wirkliche Integration der russischen Minderheit scheint noch nicht reif, obwohl die Spannungen seit dem Abzug der Roten Armee deutlich nachgelassen haben.

Mit populistischen Sprüchen aufgelockert hat den Wahlkampf auch Edgar Savisaar – erster Ministerpräsident nach der Unabhängigkeit – und seine Zentrumspartei. Mit einem wirren Programmsammelsurium scheint sie durchaus erfolgreich Stimmen von rechts bis links abgrasen zu können. Zwischen Savisaar und Kallas spielt sich der Kampf um die „dritte Kraft“ ab: Savisaar wählen soll, wer gegen die jetzigen Ungerechtigkeiten ist, für einen strengeren Einsatz der Todesstrafe, gegen die Verschleuderung von Staatseigentum an Spekulanten, für einen wirksamen Kampf gegen die Korruption. Savisaar wäre auch für Gunta die einzige Alternative zum angedrohten Ankreuzen der Vergangenheit: „Aber was wird von seinen Sprüchen wirklich übrigbleiben, wenn er tatsächlich mit in einer Regierung sitzt? Denen geht's doch allen nur um die Macht.“

Da kann man Gunta kaum widersprechen. Wenn sich etwas wie ein roter Faden durch die Tageszeitungen zieht, dann die tägliche Neuauflage von Korruptionsnachrichten und Berichten über den hoffnungslosen Kampf gegen die Kriminalität – gerade sind in einer Nacht in Tallinn nicht weniger als acht Zeitungs- und Zigarettenkioske in die Luft geflogen.

Die Umschlaggeschwindigkeit auf dem Innenministersessel wird nur von der auf dem Posten des Polizeichefs übertroffen. Unter dem Lack des Wirtschaftswunders lauern die Konkurse. „Mein alter Milch- und Brotladen“, erzählt Gunta, „ist jetzt Alkoholladen mit teuren Weinen und zwanzig Sorten Whiskey. Vor drei Monaten war er eine schicke Herrenboutique und letzten Sommer noch Porzellanladen.“

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