: Der Text im Fleische
■ Marthaler inszeniert Canettis „Hochzeit“ in Hamburg
Das Haus stürzt nicht ein. Alle, die sich am Vorabend der „Hochzeit“ hier zusammengerottet haben, scheinen einer geheimen Regieanweisung zu folgen, wie Thomas Bernhardt sie im „Theatermacher“ formulierte: „Wir sind totkrank und tun so, als lebten wir ewig.“ Während im Publikum die Lust wächst, endlich zu erfahren, wie Canettis gierig-geiles Personal auf ihr nahes Ende reagieren möge, bedient Regisseur Christoph Marthaler diese Erwartung sehr bewußt nicht. Seine Hochzeitsgesellschaft im Hamburger Schauspielhaus hat den Zusammenbruch längst hinter sich. In den Wörtern und Sätzen dieses 1932 entstandenen Stücks ist er eingefroren, und die Inszenierung im zeitlos-spießigen Ambiente formt Elias Canettis Ohrenzeugenschaft zu grandiosem Theater um: „Öffne die Ohren wieder und lasse alles einströmen, das Sinnlose, das nirgends Eingeordnete, das Vergebliche.“
Die Hochzeitsfeier, das ist die Hölle der „geschlossenen Türen“. Auf Anna Viebrocks großem, pastellfarbigen Bühnenraum öffnen sich die Tapetentüren rechts und links nur, um Paare mit eindeutigen Absichten in winzigen Toiletten verschwinden zu lassen, über denen der Kellner stoisch die Wandlampen anknipst, solange sie besetzt sind. Das sind sie oft: die Mutter (Ilse Ritter) zerrt den sprachlosen Bräutigam hinein, dessen „Wuschelaugen“ sie entzücken; der alte Hausarzt, dem Adolph Salinger mitunter ironisch die Züge Canettis selbst verleiht, stürzt sich dort auf die jüngeren Mädchen, wie er es gewöhnt ist. Wem das nicht gelingt, der neidet es den anderen. Direktor, Apotheker und Sargfabrikant, ein Pandämonium vertrauter Familienfeste, gekrönt vom Brautvater, dem das Haus die Ewigkeit ist (Josef Ostendorf). Fast immer sind fast alle zugleich auf der Bühne, 25 SchauspielerInnen wälzen sich betrunken auf dem Boden, erwachen immer wieder aus ihrer Agonie, um sich erneut zu antagonistischen Paaren, heillosen Gruppen, Menschenhaufen zu formieren, präzise choreographiert wie in einem changierenden Kaleidoskop. Canetti nannte die sprachliche Gestalt eines Menschen seine akustische Maske; Marthaler und seine Schauspieler lassen die Texte zu Fleisch werden und die Personen zu Instrumenten, die ihre Stimmen und Körper zu einer großen, kalten Symphonie zusammenfügen.
Ungeniert sprechen sie ihre grausigen Wahrheiten aus, vom Ekel, der Leere, der Gier, doch wenn das Wasser im Abfluß nach gemeinsamem Toilettenbesuch peinlich laut gurgelt, halten sie kurz inne, beäugen einander, und machen unbeirrt weiter. Nichts bringt die Maschinerie zum Stillstand. Marthaler hat Canettis vielstimmigen Abgesang auf die bürgerliche Welt mit realen Gesangsrunden durchsetzt, die sich im Laufe des Abends zum ultimativen deutschen Gesamtchor steigern. Wenn die Hochzeitsgäste taumeln und stürzen, immer wieder, sind sie nicht trunken, sondern werden zum Zeichen für Canettis „Seiltänzer, den die Worte nicht mehr tragen“. Die im Obergeschoß sterbende Hauswartsfrau, manchmal gibt die bewegliche Wand den Blick auf sie frei, wird nicht zum Gegenbild, sondern ist genauso banal. Ihr Mann erschlägt sie mit Bibelsprüchen, die stumme Tochter ist in der Hochzeitsgesellschaft nicht einmal ein Fremdkörper.
Christoph Marthalers Instrumentierung von Canettis Sprachkaskaden, die hier als das Wesentliche aus seinem Stück herausgefiltert sind und seine Spielbarkeit beweisen, entwickelt einen schwindligmachenden Sog. Die große Klugheit dieses Theaterabends liegt vor allem darin, daß der Tod nicht nur in den Sprachspielen verschwindet. Das Grauen über die Lebensfähigkeit von Bosheit und Banalität wird dann besonders deutlich, wenn die Menschen einander plötzlich stumm beriechen, tierisch-possierliche Putzgesten vollführen oder mit den Füßen zucken wie sterbende Ratten. Bevor sie sich wieder auf das Seil von Suff, Schmaus, Haus und Wörtern schwingen, sind sie sekundenlang wie nackt.
Das Haus stürzt nicht ein, denn eine andere Welt als diese gibt es nicht. „Hoffnung“, schrieb Canetti in seinen Nachträgen aus Hampstead, „ist das Wissen um kommende Atemzüge, solange sie nicht gezählt sind.“ Lore Kleinert
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