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Im Alltag lauert der Horror

Das Theaterprojekt „Vernichtung“: ein Brückenschlag zwischen Berlin und Polen. Die junge Generation war am Werk, das Ergebnis eher heikel  ■ Von Petra Kohse

Vielen Berliner Medien war er einen Vorbericht wert, dieser polnisch- deutsche Brückenschlag zweier Künstler um die dreißig. Im Rahmen der Berliner Veranstaltungsreihe „grenzenlos“, die in diesem Jahr dem Kulturaustausch mit Polen gewidmet ist, wurde ein Theaterprojekt von Klaus-Rüdiger Mai nach einem Roman von Piotr Szewc finanziert. Das Ensemble kommt vom Teatr Wspolczesny Szczecin, die Uraufführung fand im Februar entsprechend in Stettin statt. Nun wird die Produktion im Hebbel-Theater gezeigt. Nach der Premiere standen Polen und Deutsche in einem Kreis, deutsche Gruß- und Dankesworte wurden übersetzt, polnische Antworten desgleichen. Schön.

Der Roman beschreibt einen Sommertag in einer kleinen polnischen Stadt. Der Tuchhändler verbringt die Zeit in seinem Tuchgeschäft, die Prostituierte wacht auf und legt sich wieder ins Bett, der Wirt bewirtet seine Gäste, der Advokat träumt vor dem Schreibtisch von seiner Kindheit. Menschen tun Dinge, die sie täglich tun, und der Erzähler konstatiert es.

Piotr Szewc faßt ein Album voller Momentaufnahmen in vorsichtige, poetisierende Worte. Ab und zu spekuliert er über den Bildrand hinaus, und immer wieder setzt er von neuem an: Wie steht die Sonne, wer befindet sich gerade wo, fliegen die Tauben noch? Ein jüdischer und katholischer Alltag wird aufgeblättert, zwischen Fluß und Rathausuhr, mit aller Magie der Banalität. Und ständig steigt irgendwo Rauch auf.

Es ist das Jahr 1934, die Stadt heißt Zamość und liegt 75 Kilometer südlich von Lublin, wo 1943/44 etwa 300.000 Menschen in einem nationalsozialistischen KZ ermordet wurden. Szewc schrieb diesen Roman 1981, zu Beginn des Ausnahmezustands in Polen. Er war damals 20 Jahre alt und nannte sein Buch „Zaglada“ – Vernichtung. Es ist aber nicht nur das Wissen um die Geschichte, was die beschriebene heile Welt als bedroht und Rauch oder ein aufziehendes Gewitter als Metaphern erscheinen läßt. Es ist die Aufmerksamkeit, die der Autor etwa dem vermutlichen Geschmack eines Pfefferminzbonbons widmet, die einem vermittelt: Einen solchen Pfefferminzbonbongeschmack gibt es nicht mehr.

Szewc' Panorama ist ein Stoff für ein magisch-marionettenhaftes Bildertheater wie es der Pole Andrej Woron mit seinem Berliner Teatr Kreatur macht. Man hätte auch in Schaubühnenmanier ein szenisches Poem der Vergänglichkeit daraus formen können. Oder es in ein realistisches, tragikomisches Stück übersetzen. Sogar eine Psychologisierung wäre denkbar, ein westlicher Blick darauf, ein östlicher Blick darauf, ein Blick aus der historischen Distanz auf 1981 oder auf 1934, ein in der beschriebenen Zeit verbleibender Blick – alles, eigentlich alles. Nur nicht alles auf einmal.

Ein solches Bühnenbild (Stephan Fresson / Kay Fretwurst) nennt man schlicht: Der Boden ist schräg, an der Rampe wurde eine Käseecke herausgesägt. Drei Stellwände deuten verwinkelte Kleinstadtarchitektur an, bei einer fehlt unten beziehungsvoll eine vergleichbare Ecke. Mai hat das Ensemble in Salonkleidung gesteckt, nichts Kleinstädtisches haftet diesen Kleinstädtern an. Wenn sie polnisch sprechen, gibt es eine digitale Obertitelung in Schlagworten. Sie sprechen manchmal aber auch deutsch und französisch. Soviel zu den Rahmenbedingungen.

Dann beginnt, in zwölf Bildern, Mais „idyllische Komödie“ nach Motiven von Szewc. Die Idylle wird markiert und von Anfang an gebrochen. Man grüßt sich schnippisch, die Prostituierte wird beim Gruppenfoto ausgegrenzt, Dorfpolizisten vergewaltigen die Frau des jüdischen Tuchhändlers. Einmal sagen Männer, daß Männer den Krieg mögen und sprechen von Afghanistan. Die Bürger erscheinen mit Steinen in der Hand bei der Prostituierten, doch werfen sie die Steine nicht, sondern legen sie auf den Boden, so wie man Steine auf eine jüdische Grabplatte legt. Danach wird eine andere Frau aufgefressen. Im Alltag, sagt Mai, lauert der Horror.

Der Regisseur bedient sich folkloristischer, pantomimischer und surrealer Elemente und versucht dabei, ein politisches Bildertheater zu machen. Das zielt nach allen Richtungen und kommt nirgendwo an. Maskierte Gestalten aus Alpträumen wie sie Erwachsene bei Kindern vermuten, mischen sich umstandslos ins Geschehen. Eine weißseidene Tintenfischmaske ist hübsch, alles andere so albern wie die riesigen Ohren, die die Figur des Todes trägt. Manche Szenen sind immerhin fast gelungen: Einmal etwa tanzt die rotgewandete Prostituierte mit einem rotgewandeten Mann einen Tango. Eine Schar potentieller Freier erscheint im Trenchcoat und bildet einen Halbkreis. Fast wäre eine Atmosphäre der Traurigkeit, der Sehnsucht und Bedrohung enstanden, aber dann wird der Tänzer unvermittelt erstochen. Aus Eifersucht? Aus politischen Motiven? Wer weiß.

Küchenschaben gibt es auch, sie krabbeln auf dem Kneipentisch herum, später weichen sie gar nicht mehr von der Szene. Ein Pärchen mit weißen Kniestrümpfen, festem Schuhwerk und blauen Perücken tötet die Prostituierte und einen jugendlichen Liebhaber im Park. Ist es ein HJ/BDM-Pärchen in der Maske von außerirdischen Internatszöglingen? Vielleicht, denn dann ist bald Schluß und in einer Arie wird von den Schaben gesungen, deren Stunde jetzt schlage. Wie gesagt: ein Sommertag im polnischen Zamość, 1934.

Die Inszenierung ist schlecht. Sie hat keinen Stil, keinen Rhythmus, keinen Zauber und viel zu wenig Einfälle – die Bühne scheint selbst dann leer zu sein, wenn das ganze Ensemble versammelt ist. Es gibt Momente, die überzeugen. Aber auf jeden von ihnen folgen zwei Dutzend, die in ästhetischer Hinsicht deprimieren. Hoffentlich glaubt niemand in Stettin, dies hielte man in Berlin für Avantgarde. Schlimmer als das jedoch ist, daß die Inszenierung falsch ist. Mai ruft die Katastrophe in der Idylle aus. Das ist nicht nur unnötig, sondern dieser Mutwille relativiert die Historie. Das Jüdische-Katholische-Militaristische-Deutsche- Polnische in ein Irgendwie verwischend, deutet der Regisseur die Selbstauflösung einer Gemeinde an. Ihr aggressives Potential eilt den „Schaben“ entgegen, in denen man – in Variation und Umkehrung des Goebbels-Wortes von den menschlichen „Wanzen“ – die Nazis vermuten kann.

Verwunderlich, daß dergleichen als polnisch-deutsche Kooperation überhaupt stattfinden konnte und finanziert wurde. Befremdlich, daß keiner der ohnehin spärlich vorhanden Zuschauer den Saal verließ. Und typisch, daß man sich später gegenseitig dankte. Wenn nur die Form gewahrt bleibt. Es ist was getan worden für die polnisch-deutschen Beziehungen. Was, ist ja egal.

„Vernichtung“, Buch und Regie: Klaus-Rüdiger Mai, nach Motiven von Piotr Szewc, Hebbel-Theater Berlin, noch heute, 20 Uhr.

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