: Von Usbekistan lernen
■ Nach dem Mord am TV-Journalisten Listjew gedeihen Spekulationen über die Täter und Furcht vor den Folgen
Moskau (taz) – Etwa 250.000 Menschen strömten am Sonnabend in Moskau zur Beerdigung des berühmten Fernsehmoderators Wladislaw Listjew, der am letzten Mittwoch abend im Treppenaufgang zu seiner Wohnung erschossen worden war. „Ich fühle mich, als hätte man dies einen Mitglied meiner eigenen Familie angetan“, bekannten viele Trauernde. Nach dem Gottesdienst, den der Metropolit von Wolokolamsk, Piterim, hielt, durften zunächst nur etwa hundert Personen den Wagankowo-Friedhof betreten. Dicht am Sarg standen Listjews Frau, seine beiden Kinder aus früheren Ehen, die engsten Mitarbeiter. Vertreter des Senders „Ostankino“ sprachen sehr kurze Abschiedsworte.
Nach fünfzehn Uhr durften dann die oft schon seit dem Morgengrauen wartenden BürgerInnen am Grabe defilieren. Sieben Jahre lang war Listjew einer der beliebtesten und beständigsten Gäste in ihren guten Stuben gewesen. Sie kamen nicht nur aus ganz Rußland, sondern aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion.
Viele der Beerdigungsgäste brachten die Sehnsucht nach der Zeit der Glasnost zum Ausdruck, als mutige junge Journalisten wie Listjew es wagten, das bisher Unaussprechliche auszusprechen, und das Publikum angesichts dieser Enthüllungen diebische Freude empfand.
Öffentlichkeit und Staatsanwaltschaft wollen nach wie vor weder geschäftliche noch politische oder persönliche Motive für den Mord ausschließen.
Die auf den ersten Blick schwerwiegendsten Gründe, Listjew zu beseitigen, hätten einige Werbeagenturen gehabt, deren Vermittlungsdienste Listjew auf seinem neuen Posten als einer der Direktoren des öffentlich-rechtlichen Senders Ostankino auszuschalten gedachte. Es scheint aber, daß nach dem Mord Kompromisse zwischen Sender und Agenturen in noch weitere Ferne gerückt sind und daß sie zudem andere mächtige Kunden verloren haben.
Die Tageszeitung Iswestija will aus informierten Kreisen der Kriminalpolizei erfahren haben, daß die „Paten“ der örtlichen Unterwelt sich nach dem Mord an Listjew in „wahnsinniger Panik“ befänden. Besonders erschreckt hätten sie die Worte Präsident Jelzins, der auf einer Trauerfeier bei Ostankino am Donnerstag für Rußland die Praktiken in Usbekistan als positives Beispiel hinstellte, wo kriminelle Banden von Beamten des Innenministeriums „auf der Stelle erschossen“ würden. Außerdem, hieß es nach dieser Quelle, befürchte die örtliche Mafia beträchtliche Verluste im Amüsier- und Showbusineß.
Diese Argumente sprechen natürlich nicht dagegen, daß sich außenstehende Initiatoren eine Gruppe aus der örtlichen Unterwelt mieteten, um das Verbrechen zu begehen. Ein Killer, der sich „bemerkbar macht“, wird nach den Gesetzen der russischen Mafia liquidiert. Sollten die beiden Männer, die Nachbarn zur Tatzeit sahen, und deren Phantombilder ganz Rußland jetzt vor Augen hat, Listjew wirklich erschossen haben, dann sind sie heute selbst tot.
Falls also „Geschäftsleute“ diesen Mord planten, müßten sie sich in den Konsequenzen schwer verrechnet haben. Darauf stützen sich alle, die hinter der Tat politische Motive vermuten. Im gegenwärtigen politischen Klima Rußlands könnte eine derart spektakuläre Tat schnell zum Vorwand dienen, einen Ausnahmezustand zu verhängen und die für 1995 geplanten Parlaments- und Präsidentenwahlen zu verschieben.
„Wir haben allen Grund, uns vor einem Polizeistaat zu fürchten“, titelte die Iswestija am Samstag. Der bekannte Kommentator Otto Lazis kritisiert darin scharf Jelzins Ruf nach „usbekischen“ Methoden und die von ihm willkürlich angekündigte Absetzung des Oberstaatsanwaltes und des Polizeichefs von Moskau. Mehr und mehr wurden in den Fernseh-Gedenksendungen der letzten Tage Stimmen laut, die nach „hartem Durchgreifen“ rufen. „Wozu brauchen wir Demokratie, wenn sie zu solchen Resultaten führt?“ fragte die Schauspielerin Ljudmila Gurtschenko. Das rüde Verhalten der Polizei gegenüber der Presse bei Listjews Beerdigung rundet das Bild ab: Stundenlang mußten ReporterInnen um Zugang zum Friedhof betteln. Vieles spricht heute dafür, daß mit dem Mord an Listjew auch seinen politischen Intentionen ein entscheidender Schlag versetzt worden ist. Barbara Kerneck
Kommentar Seite 10
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen