: Volksfest für Computerfreaks
Auf der CeBit, der größten Computermesse der Welt, die heute in Hannover beginnt, sind Mäßigkeitsapostel in der Minderheit ■ Von Jochen Wegner
Berlin (taz) – „Ich suche noch ein paar gute Tips, wo es auf der CeBit was zum Abstauben gibt“, schrieb kürzlich ein Nutzer des Datennetzes „Internet“ im elektronischen Forum „de.alt.messe.cebit“. Leben kam in die sonst verlassene virtuelle Diskussionsnische: Erfahrene Schnäppchenjäger erläuterten in zahlreichen Antwortschreiben die Tricks, um auf der „CeBit '95“ möglichst mächtige Stücke aus den Werbeetats der angereisten Aussteller zu brechen.
Die größte Computermesse der Welt, die heute in Hannover beginnt, ist immer auch ein großes Volksfest – nicht nur für das Drittel der im letzten Jahr 680.000 Menschen, die ohne professionellen Auftrag ihre prallvollen Werbetüten über 300.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche schleppen. Auch die Messe-Profis reichen in den geschlossenen Foren der Datennetze schon seit Wochen Terminlisten für „VIP-Parties“, „Happy Hours“ oder „Mexican Tequila Standparties“ herum.
Sie alle haben Glück, wird doch die Informations- und Kommunikationsindustrie nach einer harten wirtschaftlichen Durststrecke in diesem Jahr wieder großzügiger Geld auf der Messe lassen. Noch 1992/93 mußte die in den 80er Jahren von zweistelligen Raten verwöhnte Branche ein Wachstum ihres europäischen Marktes von gerade mal zwei Prozent hinnehmen. Für dieses Jahr rechnet sie bereits wieder mit knapp sechs Prozent.
Kaum ein großes Unternehmen hat die Eiszeit unbeschadet überlebt, manchen Branchen-Saurier traf sie völlig unerwartet. Die Digital Equipment Corporation (DEC) etwa, bekannte Herstellerin von Großrechnern, entließ 1994 nach erneuten Verlusten von über zwei Milliarden Dollar ein Viertel ihrer weltweit 87.000 Angestellten. Einst, so DEC- Deutschland-Pressereferent Stefan Ehgartner, hätten sich die „großen Kühlschränke von alleine verkauft“. Den Trend zu kleinen, leistungsfähigen Workstations habe man „im Gegensatz etwa zu HP viel zu spät erkannt“. „HP“, der Hersteller Hewlett-Packard, verbuchte selbst in der härtesten Krisenphase ordentliche Umsatzzuwächse, im letzten Quartal gegenüber dem Vorjahr weltweit sogar fast 70 Prozent. Früh hatte HP bemerkt, daß mit starken Tischrechnern mehr Geld zu machen ist.
Daß auf der CeBit auch in der Krise stets gut Geld gemacht wurde, zeigen die stetig wachsenden Aussteller- und Besucherzahlen. Sie blähten den winzigen Wurmfortsatz der großen Hannover-Messe seit 1970 zur heutigen „Leitmesse“ auf, die in diesem Jahr bereits zum zehnten Mal als eigenständige Veranstaltung stattfindet. Längst stöhnen viele Firmen, die für ihre Messepräsenz nach einer Sprecherin des Veranstalters teilweise „bestimmt bis zu vier, fünf Millionen“ zahlen, über die Kosten. „Die CeBit ist ein dicker Batzen in unserem Werbebudget“, ächzt „Apple“, für „HP“ ist es „der Hauptposten“ im Jahr. Auf Wunsch der Teilnehmer hat der Messeausschuß deshalb für das nächste Mal die Dauer von sieben auf sechs Tage verkürzt.
Mit den Schwerpunkten „Multimedia“ und „News Net“ huldigt die CeBit in diesem Jahr zwei Motoren des überdurchschnittlichen Aufschwungs der Informationsindustrie. Die Melange aus Computer-, Video- und Tontechnik, zusammengehalten durch die Maschen weltumspannender Datennetze, gilt als ökonomischer Treibsatz: „Die Dezentralisierung und Demokratisierung der Information bis hinunter zum Personal Computer“, so Armin Sorg, Abteilungsleiter „Wirtschaftspolitik“ bei Siemens, werde zu einer „Explosion in diesem Bereich“ führen.
Ob allerdings die CeBit für die Aussteller irgendeinen ökonomischen Nutzen hat, bleibt umstritten. Ein besseres Preis-Leistungs- Verhältnis als die Werber verbuchen im Zweifel die Umworbenen. Für einen Tageseintritt von um die 30 Mark können sie sich an Buffets laben, Werbepräsente eintüten – oder sich tatsächlich bei mehr als 6.000 Ausstellern über die neusten Entwicklungen auf dem Computermarkt informieren.
Eine gute Kondition kann auf der CeBit nicht schaden. Henning Wriedt, Altmeister des Computerjournalismus, rät, „vernünftig und gut zu essen, kein Alkohol, kein Kaffee, keine Süßigkeiten, keine Abendfeten, viel Schlaf“. Die Mäßigkeitsapostel sind freilich in der Minderzahl. „Ich habe in den letzten 14 Jahren nur wenige Patentrezepte gesammelt“, resümiert Computerjournalist Detlef Borchers, „als da sind: viel Alkohol, Parties und Standfeten mitmachen.“
Vielleicht aber schlummert tief im Innern all derer, die meinen, alljährlich Teil dieser Ansammlung von Computerfreaks sein zu müssen, Neid auf Menschen wie den Kölner Software-Entwickler Manfred Keul. Der bleibt seit Jahren zu Hause: „In diesem Rummel ist sowieso längst kein vernünftiges Gespräch mehr möglich.“ Gleich tut es ihm Ben Salam, ein Internet- Nutzer: „Die letzten beiden Male bin ich immer schon um halb eins bei den Japanern im bayerischen Bierzelt gelandet. Dieses Jahr trinke ich mein Bier zu Hause.“
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