: Andalusiens mißglückter Sprung ins zweite Jahrtausend
Zweieinhalb Jahre nach der „Expo“ ist Andalusien in der Krise versunken. Hinter schillernden Prestigeobjekten verbirgt sich die alte Strukturschwäche. Ist Andalusien der politische Vorreiter für ganz Spanien? ■ Aus Sevilla Antje Bauer
Früher Morgen in Madrids frisch renoviertem Nobelbahnhof Atocha. Über marmornen Fußboden, den die aufgehende Sonne rosa färbt, streben aktentaschenbewehrte Geschäftsleute zu einem windschnittigen weißen Zug. Zweieinhalb Stunden dauert es, bis der Hochgeschwindigkeitszug AVE in der andalusischen Metropole Sevilla eintrifft. Abends werden die Aktenkofferträger nach getaner Arbeit wieder zu Hause sein.
Daß Spaniens schnellster und luxuriösester Zug nicht etwa in den entwickelten Norden fährt, sondern in den rückständigen Süden, hat Andalusien der Weltausstellung vom Sommer 1992 in Sevilla zu verdanken. Die Expo sollte den Besuchern nicht nur den neuesten Stand der Technik in aller Herren Länder vorführen, sondern darüber hinaus beweisen, daß Spanien der Anschluß an die Moderne gelungen war. Diesen Anspruch hatte man sich etwas kosten lassen: Sevilla hatte einen neuen Bahnhof erhalten, der an Eleganz dem Madrider Atochabahnhof nur wenig nachsteht. Der Flugplatz war erweitert, ein neuer Busbahnhof errichtet und Autobahnen gebaut worden. Und Spaniens erste Trasse für den Hochgeschwindigkeitszug war von Madrid nach Sevilla gelegt worden.
Doch nach dem Ende des Großspektakels erwischte die Wirtschaftskrise, die sich seit 1990 in ganz Spanien festgesetzt hatte, auch Sevilla. Zuerst wurden die Bauarbeiter, die noch nach Eröffung der Weltausstellung fieberhaft im Gelände gegraben und geschaufelt hatten, in die Arbeitslosigkeit entlassen. Auf sie folgten mehr als 20.000 Türwächter, Stewardessen und Kaffeefrauen, die fünf Monate lang auf dem Expo- Gelände tätig gewesen waren. Dann sanken in der Stadt die Preise. Viele der Lädchen und Buden mußten schließen. Wie ein Dominoeffekt zogen sie zahlreiche weitere Kleinunternehmen mit in die Tiefe. 36 Prozent beträgt die Arbeitslosigkeit in Andalusien heute, das sind 10 Prozent mehr als der nationale Durchschnitt.
Auf die Multis gesetzt statt auf die Kleinbetriebe
In den Städten geht es vor allem den Kleinunternehmen an den Kragen. In Andalusien stellen sie 98 Prozent aller Betriebe. Ihre Finanzdecke ist meist äußerst dünn, für Rücklagen fehlen die Mittel – und häufig auch die Bereitschaft. Denn hier wird meist noch gewirtschaftet wie vor fünfzig Jahren. Der Sohn erbt vom Vater den Betrieb und das Know-how. Eine zusätzliche Ausbildung wird zumeist als überflüssig erachtet. Gegen die wachsende Konkurrenz durch den EU-Beitritt Spaniens wissen sich die unterqualifizierten und unflexiblen Kleinbetriebe nicht zu behaupten.
Auch die Sevillaner Geschäftsleute stehen der Krise hilflos gegenüber. Francisco Rubiales von der Industrie- und Handelskammer meint allerdings, daran seien sie zum Teil selbst schuld. „Hier muß man sich erst an Disziplin und Arbeit gewöhnen, und in den letzten Jahren haben sich die Leute sehr gehen lassen“, doziert er.
Nicht zu bestreiten ist freilich, daß die sozialistische Regierung in den Jahren des Wirtschaftsbooms weniger die Kleinunternehmer gefördert, als vielmehr auf Großunternehmen gesetzt hat, um die Industrialisierung Spaniens voranzutreiben. Während die kleinen Geschäftsleute ihrem Schicksal überlassen blieben, wurden den Multis Investitionserleichterungen und Infrastrukturen geboten, um sie ins Land zu locken. Doch die Großunternehmen sehen sich nun zunehmend woanders um. Das mußten die Beschäftigten der französischen Rasierklingenfirma Gillette am eigenen Leibe erfahren. Der Konzern, der 1967 eine kleine Filiale in der Nähe von Sevilla eröffnet und dort seither jährlich 111 Millionen Rasierklingen hergestellt hatte, machte im vergangenen Jahr dicht. Der Absatzmarkt für die in Spanien hergestellten Klingen sei nicht groß genug, so die offizielle Begründung. Daran mag man hier jedoch nicht glauben. Es gehe wohl eher darum, so die Vermutung des Betriebsrats, die Arbeitsplätze nach Osteuropa zu verlegen. Daß eine Firma, die Gewinne eingefahren hat, sich so einfach aus dem Staub machen und die Beschäftigten auf die Straße setzen kann, erscheint der Belegschaft von Gillette geradezu unglaublich. Der Betriebsratsvorsitzende Pepe Lara klagt: „Wir verstehen nicht, wie es möglich ist, daß eine Firma irgendwohin kommt, den Markt aufkauft und wenn sie den Markt hat weggeht und die Arbeiter entläßt.“ Monatelang flatterten weiße Laken rund um das Unternehmen. „Hände weg von Gillette“, stand darauf, oder „Gillette, du hast uns betrogen“.
Die von der Regierung González verfolgte Politik der schnellen Industrialisierung Spaniens bringt noch weitere Probleme mit sich. So wurden die meisten Fabriken mitten in Felder und Weiden hineingesetzt. Bauernsöhne verließen die Ziegen ihres Vaters und gingen in die Fabrik. Doch was wie Fortschritt aussah, hat keine Basis: Die Arbeitskräfte sind nicht qualifiziert, und die Produktion von der Umgebung völlig abgekoppelt. Wenn die Unternehmen schließen, geht ein ganzer Erwerbszweig zugrunde, der allein von ihnen abhing. An ihre Stelle tritt nur die blanke Perspektivlosigkeit. Das wurde besonders deutlich bei Santana Motor, einem Unternehmen in der ostandalusischen Provinz Jaén, das im vergangenen April die Absicht ankündigte, mehr als die Hälfte der 2.400 Beschäftigten zu entlassen. Santana und sein Einflußbereich stellten etwa 20 Prozent des Bruttosozialprodukts der Region. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß die Bevölkerung der Kleinstadt Linares, wo das Werk liegt, nach der Bekanntgabe der Entlassungswelle Barrikaden errichtete und Straßenschlachten veranstaltete.
Auch die Landwirtschaft bietet keinen Ausweg. Die Böden sind karg und die Produktivität so niedrig, daß man mit den Weltmarktpreisen nicht mithalten kann. Um das Elend auf den Dörfern zu vermindern und die Landflucht zu bremsen, hat bereits die Regierung unter Adolfo Suárez Anfang der 80er Jahre in den beiden landwirtschaftlichen Regionen Estremadura und Andalusien eine Art Bauernarbeitslosengeld eingeführt.
Ein Netz von Abhängigkeit und Korruption
60 Tage Arbeit jährlich muß ein andalusischer Tagelöhner nachweisen können, um ein Anrecht auf umgerechnet insgesamt 3.000 Mark Arbeitslosengeld jährlich zu haben. Doch selbst diese 60 Tageslöhne kommen nur in wenigen Gemeinden zustande. So halfen sich die Bauern in den vergangenen Jahren, wie sie konnten: Bestachen Gutsbesitzer, damit diese ihnen die erforderliche Bestätigung ausstellten, oder fanden gutwillige Bürgermeister, die es taten. Über Jahre hinweg wurde so ein Netz finanzieller Abhängigkeit vom Staat, von der Gutwilligkeit der regierenden Partei sowie vom lokalen Oberhäuptling geschaffen, anstatt in den Dörfern die Entwicklung von Eigeninitiative zu fördern. Die wenig beweglichen Jugendlichen blieben auf dem Dorf – als Almosenempfänger.
Die radikale Landarbeitergewerkschaft SOC gehört zu den lautesten Stimmen, die eine Anbindung der staatlichen Zahlungen an soziale Arbeitsleistungen fordern. José Antonio Mesamora von der SOC in Sevilla kritisiert: „Man könnte Bewässerung beginnen, Sozialwohnungen bauen, die Viehtriebwege abgrenzen und erneuern – man könnte vieles mit dem Arbeitslosengeld machen. Doch häufig fehlt dafür politischer Wille und manchmal auch die Fähigkeit dafür.“ Seit der Betrug mit dem Bauernarbeitslosengeld Dutzende Tagelöhner und Bürgermeister vor den Kadi gebracht und in Restspanien das Vorurteil bestärkt hat, daß die Andalusier nur Feste feiern, aber nicht arbeiten können, wird nun über eine Neudefinition des Bauernarbeitslosengeldes diskutiert.
Seit dem Regierungsantritt des Sevillaners Felipe González 1982 gehört Andalusien zu den Hauptempfängern von staatlichen und EG-Geldern. Doch die Gelder dienten dazu, Prestigeobjekte wie die Expo zu finanzieren und jene Regionen etwa durch Straßenbau weiter zu fördern, die ohnehin entwickelt sind. Mammutprojekte, die viel hermachten und letztlich wenig bewirkten.
Die Kritik an der Wirtschaftspolitik der Regierung hat in den vergangenen Jahren landesweit zugenommen. Selbst in Andalusien, der alten Hochburg der Sozialisten, hat sich diese Kritik inzwischen in den Wahlurnen niedergeschlagen. Bei den Landtagswahlen im vergangenen Jahr erhielten die Sozialisten zum ersten Mal seit 1982 nicht mehr die absolute Mehrheit. Zum ersten Mal muß sich die Partei, die bislang eine Politik des Nudelholzes betrieben hat, mit anderen Parteien einigen.
Neue Pakte der Opposition gegen die Sozialisten
Und auch auf seiten der Opposition ist etwas Neues eingetreten: Zum ersten Mal haben sich die rechte „Volkspartei“ (PP) und die Linkskoalition „Vereinigte Linke“ (IU), die beiden Hauptoppositionsparteien, darauf geeinigt, punktuell miteinander zu paktieren, um eine weitere Vorherrschaft der sozialdemokratischen PSOE zu verhindern. Vor allem in der Linksunion, deren Mehrheit der Kommunistischen Partei angehört, hat diese neue Linie allerdings erhebliche Kritik ausgelöst. Der Vorsitzende der andalusischen „Vereinigten Linken“, Luis Carlos Rejón, verteidigt das neue Vorgehen jedoch: „Wenn für die PSOE die Zeit der Vorherrschaft zu Ende geht und sie das nicht akzeptiert und weiterhin auf allen Gebieten kommandieren will, habe ich nichts dagegen, mit der Rechten zu konkreten, punktuellen Einvernehmen zu kommen, um diese Organe zu regenerieren. Aber es ist klar, daß es weder in Andalusien noch in Spanien je zu einem stabilen politischen Abkommen mit der PP kommen wird.“
Die sozialistische Regierung sieht die neuen Pakte, die bereits dazu geführt haben, daß der Parlamentspräsident in Andalusien von der Vereinigten Linken gestellt wird, mit erheblicher Sorge. Was jetzt in Andalusien ausprobiert wird, könnte sich nach den nächsten Wahlen als Modell für eine neue nationale Politik herausstellen. Andalusien, die Hochburg der Sozialisten, könnte zum Vorreiter für ein Ende der sozialistischen Vorherrschaft werden. Und das trotz Expo und Hochgeschwindigkeitszug.
Zweieinhalb Stunden braucht der AVE von Madrid nach Sevilla. Wehe aber, wenn man von einer anderen andalusischen Stadt als Sevilla, etwa von Algeciras aus, in die spanische Hauptstadt zurück will. Die schnaufende Lok, die in dem Hafenstädtchen eingesetzt wird, weckt von vornherein Skepsis, obwohl für die Strecke nach Madrid, nur unwesentlich länger als jene von Sevilla, fast 12 Stunden veranschlagt werden, mehr als viermal so lange wie der Hochgeschwindigkeitszug.
Um die Kosten für den Hochgeschwindigkeitszug bestreiten zu können, wurden zahlreiche unrentable Nebenlinien stillgelegt. Für neue Zugmaschinen auf wenig repräsentativen Strecken ist auch kein Geld da. Wenn man Pech hat, macht die Lok unterwegs schlapp. Dann finden sich morgens um fünf alle Reisenden auf dem Perron eines verlassenen, dunklen Bahnhofs wieder. Weiter geht's im Bus durch verschlafene andalusische Dörfer. Inmitten idyllischer Olivenhaine ist Linares auszumachen, wo die Beschäftigten Steine warfen, um nicht zur Landarbeit zurück zu müssen. Am Bahnhof von Linares werden Pendler aus ihrem Vorortszug vertrieben und die Madridreisenden hineingesetzt.
Der bunte Vorortszug zuckelt gemächlich gen Hauptstadt. Zweieinhalb Stunden braucht man von Sevilla, der neuen Metropole des zweiten Jahrtausends, bis nach Madrid. 15 von einer Nachbarstadt aus, die im vergangenen Jahrhundert steckengeblieben ist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen