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Das Elend des „pentito“ Gaetano P.

Italiens Mafia-Kronzeugen leben bedrängt trotz der „neuen Identität“, die ihnen der Staat zugesteht. Der Zeugenschutz wird zum Gefängnis, dazu kommt das Heimweh. Und die Angst  ■ Aus Corleone Werner Raith

„Dort oben“, Gaetano zeigt hinauf in den sechsten Stock des Neubaus, „dort oben war ich gefangen. Wie in einem Käfig. Schlimmer als gefangen. Gefangen in Freiheit. Oder umgekehrt, frei in einer Gefangenschaft, die schlimmer ist als Zuchthaus.“ Gaetano ist offenbar nur imstande, in Paradoxa zu sprechen, die fast philosophisch klingen. Ein seltsamer Kontrast zu seiner ansonsten eher einfachen, bäuerlichen Sprache. „Dort oben“ im sechsten Stock, in der Provinzhauptstadt in der Region Lazio, da liegt die Wohnung, in der er mehr als anderthalb Jahre verbrachte: „Hinter Fenstern, die ich nicht öffnen durfte und deren Vorhänge immer geschlossen sein mußten, in Nachbarschaft mit Leuten, mit denen ich nicht reden sollte, und wenn, dann mit verstellter Stimme und einem mühsam eingelernten Italienisch und ständig kontrolliert von mißtrauischen Agenten, die hinter jedem, der mich ansprach, einen Killer vermuteten.“

Er dreht sich um, hebt die eher schmächtigen Schultern, zündet sich die nächste Zigarette an, die er wie all die anderen vorher nach drei, vier Zügen wieder wegwerfen wird: „So ein Leben, das kannst du dir nicht vorstellen. Ich war im Knast, dreimal, viermal, und einige Zeit auch ziemlich isoliert. Aber doch war ich dort unter Menschen. Da waren Leute, die mich verstanden haben, wo ich mich nicht verstellen mußte. Das hier ist schlimmer als eine Entzugsanstalt.“

Gaetano fällt in die Gegenwartsform, als sei er noch immer diesem Regime unterworfen. Tatsächlich aber hat er vor mehr als zwei Monaten den Schutz abgelehnt, den ihm die italienischen Behörden gewährt hatten, nachdem er Mitte 1993 begonnen hatte, gegen seine früheren Kumpane auszusagen. Mehr als vierzig Männer und drei Frauen aus seiner Heimat Kalabrien sind durch seine Aussagen ins Gefängnis gekommen, einige von ihnen haben lebenslänglich zu erwarten.

Gaetano, 36 Jahre alt, ist ein „pentito“, was wörtlich „Reuiger“ heißt, ein Aussteiger aus dem kriminellen System, in dem er vorher lebte und arbeitete. Ein Kronzeuge also, der sich den Behörden zur Verfügung stellt und dem dafür neben einem gewaltigen Straferlaß auch eine neue Identität, ein gesichertes Auskommen und Schutz für seine Angehörigen versprochen wird. Und formal, sagt er, hat das auch alles geklappt, so wie es auf dem Papier stand. Seine dunkelbraunen, sonst stets lebendigen Augen werden einen Moment lang starr, das braune Gesicht verhärtet sich. „Bloß, daß ich einfach nicht begriffen hatte, was da auf dem Papier stand. Keiner hat mir gesagt, was das eigentlich heißt, eine neue Identität. Ich dachte, man kriegt einen neuen Namen, Geld zum Start an einem anderen Ort und ein paar Hinweise, wie man den neuen Nachbarn gegenüber den Ortswechsel begründen soll. Aber in Wirklichkeit ist das alles anders.“

Wir steigen ins Auto, er deutet mit dem Daumen nach schräg hinten: „Ich habe die Eskorte abgelehnt, ich will kein Geld mehr vom Staat. Aber sie fahren immer noch hinter mir her.“ Tatsächlich haben sich zwei Autos in Bewegung gesetzt, die sich kaum Mühe geben zu verbergen, daß sie uns folgen. „Früher fuhr einer voraus, der andere hinterher, aber da hatte ich ja auch angegeben, wohin die Reise geht. Jetzt wissen sie es nicht, also fahren beide hinterher.“

Den Schutz kann man kaum ablehnen. „Weißt du, als ich seinerzeit in die Cosa Nostra aufgenommen wurde, mit Blutschwur und verbranntem Heiligenbild, sagten sie mir, daß man aus der Mafia nie mehr austreten kann, es sei denn als Leiche. Irgendwie habe ich das Gefühl, auch aus dem Status des ,pentito‘ kommt man nur noch als Leiche heraus. Natürlich beschützen die mich auch gegen meinen Willen, denn ich muß ja noch aussagen. Und es gab einen enormen Druck, die Identitätsänderung doch noch beizubehalten. Sie drohen sogar, andere Vergünstigungen wieder zurückzunehmen. Aber ehrlich, hätte ich so weiterleben können?“ Er beginnt aufzuzählen: „Ich bin in einem Bergdorf in Kalabrien aufgewachsen, ich spreche den dortigen Dialekt, sonst nichts. Schon das Reden hier wird zur Qual, weil ich die Leute nicht verstehe und sie durch meinen Dialekt sofort herausfinden, woher ich stamme.“ Und dann „die Sache mit den Kindern: Wie kann man Kindern von sechs, sieben Jahren, eine neue Identität geben? Denen sagen daß sie nicht mehr Rossi heißen, sondern Bianchi, daß sie nicht mehr auf Rosalia, sondern auf Gabriella hören sollen? Als ich die Einschulung beantragte, hat der Beamte bemerkt, daß die Papiere allesamt neu sind und Verdacht geschöpft, da mußte erst ein Agent hin und ihm erklär

en, daß das schon Rechtens ist. Daraufhin hat der Beamte die Gesetze nachgeschaut und herausgefunden, daß eine Einschulung unter falschem Namen verboten ist, also ging die Sache in die nächste Instanz, am Ende hat meine Tochter ein ganzes Schuljahr verloren, jetzt ist sie in einer Privatschule, die keine Fragen gestellt hat. Aber das kostet Geld, 250.000 Lire im Monat (etwa 220 Mark). Und die zahlt mir der Staat nicht.“

Wir halten an einer Autobahnstation an der Tangenziale von Neapel. Gaetano bestellt einen Kamillentee und tupft sich damit sein linkes Auge – er versucht den Tick zu mildern, sein Augenlid versucht seit Monaten, ihn durch ständiges Zucken auf seine Streßsituation aufmerksam zu machen. Dann muß er telefonieren. „Sie erwarten mich auf dem Schiff“, sagt er, „du kannst nicht mit.“ Zwei Stunden später winkt er noch einmal von der Reling: Wir würden uns wenige Stunden später in Palermo wiedersehen.

Doch in Palermo ist Gaetano nirgends zu finden. Alle Adressen, die er mir gegeben hat, erweisen sich als Fehlanzeige; schließlich bleibt nur ein Anruf bei der Präfektur. Die ist natürlich informiert, daß der Mann jetzt anders heißt – und wird ausgesprochen mißtrauisch, wer ihn denn sehen will. Auch das wird nichts.

Doch kurze Zeit danach steht Gaetano vor mir, wie aus dem Boden gewachsen am Trockendock der Kalsa. „Sie haben mich erneut ausgequetscht“, sagt er. „Sie“, das waren die Leute auf dem Schiff: Polizisten, nicht irgendwelche alte Bekannte. „Die Morde in den letzten Tagen, weißt schon.“ Acht Tote hat es zwischen Catania und Palermo vergangene Woche gegeben, darunter auch der Neffe des ersten großen „pentito“ Tommaso Buscetta. „Jetzt haben die Muffensausen“, sagt Gaetano, „und haben uns alle zusammengetrommelt, weil sie wissen wollen, warum das alles passiert.“ Und kann er das sagen? „Ja und nein. Wenn ein neuer Mafiakrieg ausbricht, ist das ja nicht von ungefähr, der ist lange geplant und wird von ganz oben abgesegnet. Ich denke, daß einiges an hoher Politik mitspielt, wovon ich als kleiner Gangster ehrlich gesagt zu wenig verstehe, aber vielleicht auch, daß die eine neue Welle von Überläufern fürchten und schon jetzt warnen wollen: Wer da mitmacht, ist erledigt.“

Eine These, die abends auch hohe Ermittler im Fernsehen vertreten. Tatsächlich soll der Carabinieri-Feldwebel, der sich am Wochenende das Leben genommen hat, kurz vor einem epochalen Erfolg gestanden haben: Er hatte den in den USA lebenden früheren Top-Mafioso Tano Badalamenti zur Rückkehr nach Italien und zur Aussage überredet. Doch im letzten Augenblick war die Reise von den Vorgesetzten abgesagt worden – die Deckung war geplatzt, mit der der Beamte über die „Konversion“ Badalamentis hinaus auch noch das ganze Netz jener aufsteigenden Gruppen aufrollen wollte, die den alten Chef der Cosa Nostra vor zehn Jahren ausgehebelt hatten. Jedenfalls hatten unbekannte Killer dem Feldwebel vor wenigen Tagen die Leiche eines Vertrauten mitten auf die Piazza gelegt, ein typisches Mafia- Zeichen für erkannten „Verrat“.

Als dann der palermitanische Bürgermeister Leoluca Orlando, trotz seiner früheren Verdienste im Kampf gegen die Mafia inzwischen als unqualifizierter Verdacht-verbreiter gefürchtet, im Fernsehen just diesen Feldwebel der Zusammenarbeit mit mafiosen Gruppen verdächtigte, sah der Offizier sich vollends zum Abschuß freigegeben: In seinem Abschiedsbrief hob er ausdrücklich hervor, daß er nur so Schaden von seiner Familie wenden könne. „Dem ist es gegangen wie unsereinem“, sagt Gaetano, „man hofft halt von Tag zu Tag, daß man nicht auffliegt, vertraut sich Dutzenden von Leuten an, die einen beschützen sollen, und dann erkennt man plötzlich, daß doch alles für die Katz war.“

Die Fahrt geht hinauf in die Bergstadt Corleone, in das berüchtigste Mafianest Siziliens. Gaetano hat hier einen Verwandten, zu dem er absolutes Vertrauen hat, obwohl dieser keineswegs ein „pentito“ ist, sondern noch immer aktiv. „Wir haben als Kinder Blutsbrüderschaft geschlossen, und ein richtiger Sizilianer hält dazu auch noch, wenn die eigene Gruppe den Blutsbruder zum Tod verurteilt hat.“ Daß er gerade heute, am 8. März, hierherfahren wollte, hat einen speziellen Grund – für den Weltfrauentag hatten die „Frauen gegen die Mafia“ eine Demonstration durch die Stadt angekündigt, und derlei ist in Corleone traditionell ein Grund für die Männer, ostentativ vor dem Fernseher zu sitzen, auf die Jagd zu gehen oder sonstwie ihre Mißbilligung solcher Veranstaltungen auszudrücken. Beste Gelegenheit also, sich als Fotoreporter in die Pressemeute zu schummeln und im rechten Augenblick abzubiegen in den Toreingang seines Verwandten.

Die Frauendemo mit Schriften „Es reicht mit der Mafia“, „Frauen wollen frei sein – auch von der Angst vor dem Verbrechen“ und gar „Männer, wir ertragen euch nicht mehr“ ist nicht sonderlich gut besucht, vierhundert Demonstratinnen mögen es sein. Vom scharfkantigen Felsen, der sich hinter der Stadt erhebt und in dem ein vormaliges Gefängnis heute einen Dissidentenorden der Benediktiner beherbergt, gucken neugierig ein paar Mönche herunter.

„Ich habe hier meine erste Frau kennengelernt. Einer von denen da oben hat uns getraut“, hatte Gaetano erzählt, bevor er zu seinem Verwandten veschwand, „und wenn es nach den hiesigen Mafiosi ginge, wäre ich noch immer bei ihr und damit dem Regiment dieser Leute unterworfen. Jedenfalls haben sie mich bis nach Deutschland verfolgt, als ich dort arbeiten war, um mich wieder mit ihr zusammenzuzwingen. Erst als ich ihnen gezeigt habe, daß da eine andere Frau ist, aus meinem Heimatort, wo ich einen gewissen Schutz meiner eigenen Mafiafamilie vorweisen konnte, und daß die ein Kind von mir erwartet, haben sie aufgehört – vielleicht haben sie mich damals schon zum Tode verurteilt.“ So hat er sich nach langen, durch die Umstände des Getrenntseins immer wieder hinausgezogene Gesprächen mit seiner neuen Partnerin der Polizei gestellt und nach und nach ausgepackt – ein Motiv, das mit den Frauen, das im übrigen eine ganz ansehnliche Zahl geständiger Mafiosi zu ihrer Wende veranlaßt hat.

Gaetano scheint, als wir uns zwei Stunden später wieder treffen, nicht sonderlich zufrieden. Jedenfalls ist er bei der Rückfahrt ziemlich einsilbig. Dann, kurz bevor er wieder auf die Fähre nach Neapel steigt, bricht er sein Schweigen doch kurz: „Er möchte, daß ich mich wieder dem Zeugenschutz unterstelle. Dabei weiß er, daß ich so nicht leben kann. Aber wahrscheinlich ist es der letzte Liebesdienst, den er mir tun kann. Er meint wohl, sie seien wieder hinter mir her. Er weiß es. Er hat es nicht gesagt, aber er weiß es. Er würde es mir sonst nicht sagen. Er weiß es.“

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