: Die größten Abenteuer geschehen im Kopf
■ Die Berlinerin Maria Schild ist seit zehn Jahren Profi-Märchenerzählerin / Ihre Liebe zu fremden Kulturen läßt sie regelmäßig zu Studienfahrten ins Ausland aufbrechen
Je unromantischer das wahre Leben für die Leute wird, desto anziehender scheint die Welt der Märchen auf sie zu wirken. Als vor kurzem ältere BerlinerInnen aufgerufen wurden, sich kostenlos zu Märchenerzählern ausbilden zu lassen, meldeten sich sofort rund 100 Leute. Nur 30 können allerdings an dem vom Senat finanzierten Kurs innerhalb des Projekts „Erfahrungswissen älterer Menschen nutzen“ teilnehmen. In diesen Wochen treffen sich die VorruheständlerInnen und RentnerInnen siebenmal, um von einer professionellen Märchenerzählerin in der Kunst des Fabulierens angeleitet zu werden. Danach sollen sie in Kitas, Schulen oder Krankenhäusern Abenteuergeschichten und Mythen vortragen.
Wie man das am eindrucksvollsten tun kann, zeigt Maria Schild, die behauptet: „Die größten Abenteuer geschehen im Kopf.“ Maria Schild hat von ihrer Großmutter die „Liebe zu den Märchen“ übernommen und seitdem nicht mehr verloren. Sogar ihre Lebensphilosophie, nach der „die meisten Problem der Leute entstehen, weil sie nicht erzählen und zuhören können“, erwuchs wohl aus diesen glücklichen Jugendzeiten.
Vor zehn Jahren machte die heute 52jährige ihre Leidenschaft gar zu ihrem Beruf. Seitdem erzählt sie ihre unglaublichen Geschichten auf Hochzeiten, Geburtstagen und Sommerfesten oder rettet Kulturabende auf Gewerkschaftsseminaren vor Langeweile. Nebenher gibt sie auf Fortbildungslehrgängen für ErzieherInnen und LehrerInnen sowie an Volkshochschulen ihre Erfahrungen weiter. Das Erzeugen der richtigen Stimmung für eine Märchenstunde ist ihr dabei noch wichtiger als die Vermittlung von Stimmtechniken.
Deshalb legt sie auch viel Wert auf eine märchenhafte Atmosphäre in ihren Erzählrunden, in denen sie am liebsten alle Generationen vereint sieht, weil „Märchen ja auch für Leute allen Alters gedacht sind“. Während ihres Vortrags sitzt sie zwischen Samowar, Kerzen und Blumen auf einem bunten Teppich. Jeden ihrer Gäste begrüßt sie immer persönlich mit Tee und Keksen. Bei Seminaren erzählt sie zuerst ein Märchen, bevor sie die TeilnehmerInnen nach ihrer Person befragt. Dieses Ritual geht auf einen alten Brauch asiatischer Völker zurück, die dem Gast vor Beginn der Märchenzeit allerdings zusätzlich noch ein Bad bereiteten. Aus dem asiatischen und osteuropäischen Raum stammen auch jene Geschichten, Fabeln und Mythen, die es Maria Schild besonders angetan haben und auf die sie sich deshalb spezialisierte. Ihr fabelhaftes Wissen bezieht sie vor allem aus der Literatur von „Tausendundeine Nacht“, dem „Papageienbuch“ mit den schönsten persischen Märchen oder der chinesischen Geschichtensammlung „Liau Dschai“.
Die Faszination für die fremden Kulturkreise reicht soweit, daß die Berliner Profi-Märchentante sogar regelmäßig mit einigen Frauen aus ihren Seminaren in die Ursprungsländer der phantastischen Prosa reist. Mit der Transsibirischen Eisenbahn ging's bereits durch Sibirien, wo auf dem gefrorenen Baikalsee ein Märchenfest mit Väterchen Frost gefeiert wurde. Andere Touren führten sie entlang der Seidenstraße in China sowie zu den Lebensorten des berühmten persischen Dichters Hafis, der schon im 14. Jahrhundert sehr rührende Worte für die freie Liebe und den freien Rausch ersann, was ihm das iranische Volk noch heute sehr zugute hält.
Als diese Anliegen vor einem Vierteljahrhundert in der Bundesrepublik gerade die größte Propagierung erfuhren, stand auch Maria Schild nicht abseits der revolutionären Kunst. Die gelernte Schauspielerin schulte ihre Fähigkeit, „vor Publikum zu reden“, nicht zuletzt als Sozialpädagogikstudentin während der 68er Sturm- und-Drang-Zeiten.
Damals las sie unter anderem in besetzten Häusern oder im Frauenknast zum Beispiel Geschichten von diebischen Fabelwesen. Ihre Vorliebe für Märchen mit „wilden, wüsten und mutigen Frauen“ sowie mit all den Kleinen, die „listig die Macht überwinden“, bestand eben schon damals. Gunnar Leue
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