: Nabelschau
■ betr.: „Ma derf nix verkomme lasse“ von Ute Scheub und Phi lippe André, taz vom 25./ 26. 2. 95
Der als Reportage bezeichnete Artikel über das unterschiedliche Verhalten der Bürger aus Berlin und Ulm in Sachen Müllsortierung sagt wieder einmal mehr über die taz-Schreiber aus als über das Thema. Der Versuch, das Phänomen auf amüsante Art zu erklären, ist zwar ehrenwert, aber leider platt und klischeehaft geraten. Wiederholt scheinen merkwürdige Einstellungen und Ressentiments durch.
1. Berlin ist Euer Nabel (noch nachvollziehbar!). Je größer die Distanz zu diesem Nabel, desto provinzieller werden von Euch Personen und Ereignisse eingestuft (nicht mehr ganz so verständlich!) Diese Nabelschau prägt etliche Eurer Artikel, ob über die Erstaufführung eines Filmes in Münster oder über die Erfolge eines Tischtennisvereins in Ochsenhausen.
2. Die Bewertung der Provinzler fällt noch negativer aus, wenn die Menschen Dialekt sprechen. Ihr erweckt fast querbeet durch alle Ressorts immer wieder den Eindruck, als ob deutsche Dialektsprecher primitiv, dumm, ungebildet und naiv seien. Besonders der schwäbische Dialekt wird von Euch permanent niedergemacht, vor einiger Zeit in einer Fernsehkritik als „gutturales Geschnalze“, zuletzt in der Samstagsausgabe als „schrecklichster Dialekt der Welt“, ebenso wenn Ihr Oberlehrer Euch meint darüber amüsieren zu müssen, daß Jürgen Klinsmann die schwäbische Variante des Relativsatzes im Gespräch (nicht in der Schrift) verwendet.
3. Ganz schlimm wird es, wenn diese dialektsprechenden Provinzler auch noch fortschrittliche Leistungen vorweisen können, wie zum Beispiel hohe Recyclingquoten. Da wird dann das Müllsortieren lächerlich gemacht und als der schwäbischen Spießerseele entspringend dargestellt, als ob es nicht eines immensen Einsatzes vieler Umweltaktivisten bedurft hätte, die Leute soweit zu bringen. Allein dieser „schwäbischen Seele“ haben laut taz auch die Grünen ihre Erfolge im „Ländle“ zu verdanken.
Eine Zeitung mit ökologischem Profil kann es sich nicht leisten, auf den Seiten „Wirtschaft und Umwelt“ kritisch über Müllverbrennungsanlagen etc. zu schreiben und dann die Arbeit der Müllverbrennungsgegner, die nach zehnjährigem Kampf langsam erste Früchte trägt, in einer Reportage ins Lächerliche zu ziehen.
Eine Zeitung, die den Anspruch hat, kritisch zu sein, kann es sich nicht leisten, permanent billigste Klischees (zum Beispiel vom geizigen und spießigen Schwaben) zu bedienen. Eine Zeitung, die sich einer multikulturellen Gesellschaft verschrieben hat, kann es sich nicht leisten, in arrogantester Art und Weise an der Zerstörung der eigenen Sprachvielfalt mitzuwirken. Wie glaubwürdig seid Ihr denn, wenn Ihr Euch für die Erhaltung von alten Sprachen in anderen Kulturen einsetzt? [...] Herbert Wieland, Hüttisheim
Beide taz-Autoren sind Schwaben. d.Red.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen