Korsika hat die Waffen satt

Nur noch selten findet ein Bombenanschlag auf ein Touristenzentrum den ungeteilten Beifall der KorsInnen. Der Kampf war nötig, meinen die meisten  ■ Aus Ajaccio Dorothea Hahn

Jean-Pierre Leca hatte das „U Paradisu“ gerade eröffnet. Er stand hinter dem Tresen, von dem aus der Blick über die immer noch dicht befahrene Uferstraße Cours Napoléon direkt auf den Golf von Ajaccio geht, und mischte Cocktails für seine ersten Kunden an diesem Abend. Wenige Minuten nach 20 Uhr machte er eine halbe Drehung. Kaum hatte er sich den aufgereihten Flaschen zugewandt, traf ihn eine Kugel in den Nacken. Mit einem präzisen Schuß aus weiter Ferne wurde Leca an jenem Donnerstag im Februar zum sechsten Gewaltopfer des neuen Jahres auf Korsika.

Die herbeigeeilten Polizisten konnten nur noch den Tod des 47jährigen feststellen. Wie der zustande kam, wird vielleicht für immer ein Geheimnis bleiben. Als die Beamten eintrafen, hatten die meisten Kunden den Schauplatz des Verbrechens längst verlassen. Wer zurückgeblieben war, konnte sich an nichts erinnern. „Sie stehen unter Schock“, berichteten die örtlichen Medien. Und ihre LeserInnen verstanden, daß die Omerta – das Gesetz des Schweigens – wieder einmal stärker gewesen war.

„Das waren professionelle Killer“, schließt Léon Alessandri am nächsten Morgen fachkundig aus den knappen Informationen über den Mord. Nur Profis seien in der Lage, stundenlang unbeweglich am Abzug zu verharren, bis sie ihr Opfer in genau jener Position hätten, wo ein einziger Schuß tödlich sei. Wer jedoch hinter den Profis am Abzug steckte, weiß auch Alessandri nicht. Der stämmige 40jährige lebt in Bastia, der zweiten Großstadt der Insel, eine halbe Tagesreise von der Verwaltungshauptstadt Ajaccio entfernt, wo der Mord stattfand. Aber Korsika ist klein – man kennt sich. Zumal zwei, die wie Leca und Alessandri einmal gemeinsam für die nationale Unabhängigkeit gekämpft haben.

Alessandri ist einer jener Korsen, die 1976 die „Front der nationalen Befreiung“ (FLNC) gründeten, die wie die nordirische IRA und die baskische ETA ihre „Kolonialmacht“ mit Hilfe des bewaffneten Kampfes vertreiben wollte. Ihr ganz großes Vorbild aber, von dem sie auch den Namen übernahmen, fanden die korsischen Nationalisten damals in der algerischen FLN. Der junge Alessandri warf Bomben auf Militäreinrichtungen und Immobilienspekulanten, traf sich im Ausland mit palästinensischen Kämpfern und bereitete sich auf die Unabhängigkeit vor. 1984 hatte er seinen letzten großen Einsatz, als er in der Uniform eines Wachmannes in das Gefängnis von Ajaccio spazierte und dort einen Insassen erschoß, der in der FLNC als „Verräter“ galt.

„Wir haben ihn vernichtet“, sagt Alessandri ganz in der Diktion jener Jahre. Dabei hat er sein Leben radikal verändert, seit er 1989 zuletzt das Gefängnis verließ. Damals hätte der „reine und harte Nationalist“ in der inzwischen aufgebauten legalen Struktur der FLNC Karriere machen können, etwa als Parlamentarier im neugegründeten korsischen Parlament. Doch er entschied sich anders, baute ein kleines Transportunternehmen auf und gründete eine Familie.

Die Krise des korsischen Nationalismus war zu dem Zeitpunkt bereits in vollem Gang. Seit die sozialistische Regierung in Paris 1982 ein Autonomiestatut und ein eigenes Parlament für die unruhige Berginsel im Mittelmeer geschaffen hatte, änderte sich die Diskussion im Untergrund. Während die Hardliner des bewaffneten Kampfes die Pariser Zugeständnisse für eine Falle hielten, entschieden sich andere Nationalisten dafür, das Angebot zu nutzen. Die einst einheitliche FLNC spaltete sich. Bis Anfang der 90er Jahre waren drei konkurrierende bewaffnete Nationalistengruppen entstanden – jede mit einem eigenen „legalen Arm“, der im Parlament von Ajaccio vertreten ist.

„Ohne die Nationalisten wären unsere Küsten zubetoniert wie die Côte d'Azur“, sind die Korsen überzeugt. Attentate gegen gigantische Ferienanlagen – wie Ende Januar die Bombe auf der Korsika vorgelagerten kleinen Insel Cavallo – finden immer noch breitgestreuten Beifall. Als unbestreitbares Verdienst des Befreiungskampfes gilt auch, daß die korsische Sprache heute anerkannt ist und daß es in Corte, im Zentrum der Insel, eine eigene Universität für 2.000 Studenten gibt.

„Der bewaffnete Kampf war nötig“, resümiert Alessandri die letzten zwanzig Jahre, „aber der Krieg kann nicht ewig weitergehen.“ So wie der populäre Ex-Untergrundkämpfer denken viele KorsInnen, die sich nach einem Ende der Gewalt auf ihrer Insel sehnen. Im vergangenen Jahr kamen vierzig Menschen gewaltsam ums Leben, 379 Bomben explodierten an Autos, Häusern, Bars. Allerdings übernahmen Nationalisten nur für 100 Anschläge die Verantwortung. Der Rest geht auf das Konto privater oder geschäftlicher Konflikte, Streitereien zwischen Clans oder die Mafia stecken dahinter.

Polizei und Justiz wissen am allerwenigsten, wer für die Gewalt heute verantwortlich ist. Bei ihren Ermittlungen treffen sie stets auf ZeugInnen, die nichts gesehen und nichts gehört haben. Und das, obwohl längst Korsen zu den Hauptopfern der Gewalt geworden sind. Ungezählte Millionen Francs werden als „Revolutionssteuern“ eingetrieben, und damit, daß nur Festlandsfranzosen und Ausländer zur Kasse gebeten werden, ist es schon lange vorbei.

Selbst militante Nationalisten bleiben nicht verschont. Das erste Opfer aus den Reihen der FLNC- Canal historique – die militanteste Abspaltung des alten FLNC – war der 28jährige Robert Sozzi. Er wurde am 15. Juni 1993 ein paar Meter vor seiner Haustür erschossen. Er sei ein „Verräter“ gewesen, begründete die Organisation ihre „legitime Selbstverteidigung“. Am 28. Dezember letzten Jahres starb Franck Muzy (37), ebenfalls militanter Nationalist der FLNC-Canal historique und enger Freund von Robert Sozzi. Zwar übernahm diesmal niemand die Verantwortung, doch vieles deutet auf eine neuerliche interne Abrechnung hin.

Die Witwen Sozzi und Muzy sind in Korsika zu Symbolen geworden. Sie haben eine Gruppe gegründet – „Frauen für das Leben“ – und demonstrieren für die Aufklärung der Verbrechen. Laetitia Sozzi ist in dem Wohnblock am Stadtrand von Bastia geblieben, wo sich die Gardinen hinter den Fenstern bewegen, sobald Fremde über die kleine Straße gehen, auf der ihr Mann ermordet wurde. Mit der Renovierung der Zweizimmerwohnung im obersten Stockwerk ist Robert Sozzi nicht mehr fertig geworden. Ein großes Foto des Ermordeten und ein Bild des jungen Fidel Castro mit Che Guevara schmücken das Wohnzimmer, wo die beiden zwei- und vierjährigen Söhne der Sozzis spielen.

„Robert war ein Bombenbastler“, sagt Laetitia Sozzi, „aber er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.“ Sie ahnt, daß die Mörder ihres Mannes zu jenem harten Kern von fünfzehn bis zwanzig bewaffneten Kämpfern gehören, die die FLNC-Canal historique unter Kontrolle haben. „Wir müssen diese Leute isolieren“, sagt die 29jährige Witwe. Ihre Mutter, die die Enkelkinder versorgt, hat Angst. „Ich wünschte, Laetitia würde sich da raushalten“, sagt die alte Dame, in deren Schulzeit der Gebrauch der korsischen Sprache noch unter Strafe stand. Andererseits war damals die Gewalt noch berechenbar, weshalb die heute über 70jährige sich gern an die „Ehrenbanditen“ erinnert: „Wenn ein Mädchen vergewaltigt wurde, ging der Bruder los und erschoß den Täter. Damals lebten wir mit offenen Türen.“

Zwanzig Jahre nach Beginn des bewaffneten Kampfes für die korsische Unabhängigkeit sprechen die Nationalisten des Sozzi- und Muzy-Komitees von einem „Scheitern“. Sie wollen heute Autonomie, Föderalismus und Eingliederung in Europa – aber nicht mehr unbedingt die Loslösung von Frankreich, die Unabhängigkeit. „Wir wollen keine Revolutionssteuer mehr und keine Untergrundkämpfer, die ihre legalen Vertreter wie Marionetten behandeln, und wir wollen schon gar kein Regime wie das in Algerien“, sagt FLNC-Mitgründer Alessandri.

Mehr Demokratie und Transparenz wollen die Komitee-Mitglieder, die bei ihren Demonstrationen mehrere tausend Menschen auf die Straße bringen, auf allen Seiten. Nicht nur von den unkontrollierbar gewordenen bewaffneten Kämpfern, sondern auch von der französischen Regierung. Die Geheimverhandlungen, die Innenminister Charles Pasqua seit einigen Monaten ausgerechnet mit dem militantesten Teil der nationalistischen Bewegung führt, lehnen sie ab.

Im vergangenen November hatten FLNC-Canal historique und „Cuncolta Naziunalista“ eine neue „Lösung“ angeboten: Statt der Unabhängigkeit wollen sie nun, nach dem Vorbild einiger ehemaliger französischer Kolonien, den Status eines „überseeischen Gebietes“. Wenn sie positive Signale aus Paris bekämen, würden sie ihre bewaffneten Aktionen gegen französische Einrichtungen einstellen, erklärten die bewaffneten Kämpfer in einem Kommuniqué im November. Wenige Stunden später schickte der in Korsika geborene Innenminister einen offenen Brief an die korsischen Medien, in dem er das Angebot begrüßte. Seither gab es keine Anschläge mehr auf dem „Kontinent“.

Umgekehrt konnten fast alle inhaftierten Mitglieder der FLNC- Canal historique die Gefängnisse verlassen. „Pasqua hat einen Waffenstillstand für die Zeit des Präsidentschaftswahlkampfes ausgehandelt“, sagen viele KorsInnen, „mehr nicht.“ Eine langfristige Lösung vermag niemand in seiner Geheimdiplomatie zu erkennen, zumal die blutigen Anschläge auf Korsika ungemindert anhalten.

Nach dem Tod von Jean-Pierre Leca im „U Paradisu“ veranstalteten die „Frauen für das Leben“ ihre übliche Schweigedemonstration. Und Vertreter aller nationalistischen Organisationen – auch der Komitees für Sozzi und Muzy – versammelten sich am Samstag an Lecas Grab. „Höchstwahrscheinlich“, so ein Nationalist, der dem Spektakel fernblieb, „waren seine Mörder auch dabei.“

Leca war eines der prominentesten Mitglieder der mit mehreren Abgeordneten im Parlament vertretenen „Bewegung für die Selbstbestimmung“ (MPA), dem „legalen Arm“ der bewaffneten Nationalisten-Organisation, FLNC-Canal habituel. In seinen letzten Jahren hatte er eine ganz erstaunliche Karriere vom Klempner zum Besitzer dreier gutgehender Bars in Ajaccio gemacht. Vielleicht steckten die Dutzende illegaler Geldmaschinen, die Leca betrieb, hinter seinem plötzlichen Reichtum, vielleicht auch die Schutzgelderpressung, die ihm in Ajaccio nachgesagt wird.

Mehrfach kam der 47jährige Leca wegen Mordes ins Gespräch. Einmal mußte er sich wegen eines Doppelmordes sogar vor Gericht verantworten. Doch dann konnten sich die Zeugen plötzlich nicht mehr entsinnen.