: Die grüne Reformpartei braucht Macht, aber welche?
Seit ihrem zweistelligen Wahlergebnis in Hessen kokketieren die Grünen mit der Übernahme eines Innenministeriums. Eine genauso verlockende wie kurzsichtige Perspektive, mit der das eigentliche Anliegen grüner Politik, das sozial-ökologische Reformprojekt, nicht weiterentwickelt wird ■ Von Hans-Joachim Giegel
Nach der hessischen Landtagswahl entfaltete sich in der grünen Partei eine Debatte, in der es – wie erst im Verlauf deutlich wurde – um eine Grundsatzentscheidung im Hinblick auf die weitere Gestaltung grüner Politik geht. Die eigentliche Intention, mit der einige grüne Strategen die Debatte in Gang setzten, wurde zunächst nicht von ihnen selber benannt, sondern von einer Art Hofberichterstattung, die das, was offensichtlich für jene schon feststand, vorsichtig in Form von Fragen und Gedankenspielen einführte: Können Sie sich auch vorstellen, Innenminister zu werden? fragte bespielsweise die taz einen potentiellen grünen Ministerkandidaten. Dieser seltsame, aber durchaus geschickt inszenierte Anfang der Debatte brachte es mit sich, daß zunächst alles fehlte, was man bei der sich hier vorbereitenden Grundsatzentscheidung hätte erwarten können. Es schien nicht einmal erforderlich, die langfristige politische Zielsetzung aufzudecken, die mit einer Besetzung des Innenministeriums durch die hessischen Grünen verfolgt werden sollte.
Hintergrund dieser strategischen Figur ist die Vorstellung, daß die Grünen ins Zentrum der Macht vorstoßen müßten. Es scheint, als wäre mit dem Hinweis auf den Gewinn von Macht bereits alles geklärt, als hätten nicht gerade die Grünen Anlaß, darüber nachzudenken, welche Sorte von Macht sie anstreben sollten und welche Sorte von Macht mit ihren politischen Zielsetzungen im Einklang steht. Prinzipiell sind machtstrategische Überlegungen für sich alleine nicht in der Lage, eine Grundsatzentscheidung von der Relevanz der jetzt zu fällenden argumentativ zu fundieren. Dazu müßte erst einmal das geleistet werden, was die Strategen mit ihrem Durchrechnen von Machtkalkülen eher verhindern, nämlich sich über den Zustand der grünen Partei zu verständigen, über ihre Ziele, ihre Fähigkeit oder Unfähigkeit, die Realisierung dieser Ziele zu befördern, die Probleme ihrer eigenen Entwicklung und zuletzt die Optionen, die ihr gegenwärtig offenstehen.
Mängel grüner Reformpolitik
Es ist unbestritten, daß die Grünen, wo immer sie die Chance dazu hatten, kleinere und größere Reformprojekte, darunter einige von weittragender Bedeutung, in den für sie zentralen Feldern auf den Weg gebracht haben. Allerdings besteht auch kein Zweifel darüber, daß es sich hier eher um die gleichen Reformanfänge handelt und daß es zu der eigentlichen Bewährungsprobe einer sozial-ökologischen Reformpolitik erst dann kommen würde, wenn ihre Kernprojekte (zum Beispiel ökologische Steuerreform, Reform der Struktur der Energieversorgung, Grundsicherung, Rentenreform und so weiter) angegangen werden sollten. Sind die Grünen für diese schwierige Etappe der Reformpolitik gerüstet? Es gibt eine Reihe von Hinweisen, die skeptisch stimmen.
1. In der ersten Legislaturperiode, in der die Grünen dem Bonner Parlament angehörten, gab es eine Reihe von Anstrengungen, inhaltliche Gesamtkonzeptionen der Reformpolitik zu erarbeiten. Am bekanntesten geworden ist das Umbauprogramm von 1986, in dem versucht wurde, die verschiedenen Schritte des ökologischen Umbaus in ihrem inneren Zusammenhang darzustellen. Seitdem hat es Teilstücke konzeptioneller Arbeit gegeben, eine Verständigung über den Gesamtrahmen der Politik findet aber nur noch auf Programmparteitagen statt, nicht aber auf breiter Mitgliederbasis. Besonders auf Landesebene kommt die Politik häufig über einen Katalog von Einzelforderungen nicht hinaus. Dies kommt der kurzfristigen Perspektive von parlamentarischer Arbeit und Regierungstätigkeit entgegen, schwächt aber die Voraussetzungen für eine langfristige und umfassend angelegte Reformpolitik.
2. Daß eine Reformpolitik, wie es die Grünen im Sinn haben, an tausend Stellen in der Gesellschaft auf Widerstand stößt, ist nicht weiter verwunderlich. Es ist aber erstaunlich, wie wenig sie sich mit den daraus resultierenden Problemen auseinandergesetzt haben. Den Grünen fehlen strategische Leitorientierungen zur gesellschaftlichen Konfliktaustragung. Eine solche wäre zum Beispiel die Regulierung der divergierenden Interessen von Wirtschaft und Umwelt durch einen Kompensationszwang für Naturverbrauch.
3. Solche Leitorientierungen wären auch notwendig, um die Gradlinigkeit der eigenen Politik zu sichern. Die bisherige Form der Konfliktaustragung – entweder Obstruktion oder sich dem Druck der gegenläufigen Interessen unterwerfen – bringt eine mit prinzipiellen Ansprüchen operierende Politik ins Schlingern und muß insbesondere bei ihren eigenen Anhängern Verwirrung erzeugen. Um dieses Problem glauben sich Strategen der hessischen Grünen herummogeln zu können. In der Koalition mit der SPD sind es, wie sie unermüdlich betonen, die Grünen, die Gradlinigkeit der Politik garantieren. Wenn es Abweichungen gibt, so sind diese der SPD anzulasten. Diese Behauptung erweist sich aber bei näherem Zusehen allenfalls als eine Drittelwahrheit. Gradlinig war die Politik in Hessen noch in der Frage der Atompolitik. Schon bei der Gentechnologie wird das Bild widersprüchlicher. Noch massivere Widersprüche kann man in anderen Bereichen, wie zum Beispiel beim Straßenbau entdecken: was oberflächlich als Gradlinigkeit grüner Politik erscheint, konnte nur durch die Hilfe der SPD gesichert werden, war also gewissermaßen eine parasitäre Gradlinigkeit.
Die Veränderung der politischen Kultur
Das zweite große Feld der grünen Reformorientierung betrifft die Veränderung der politischen Kultur und die Erweiterung der Demokratie. Beide Reformfelder stehen in einem engen Zusammenhang: die Chancen für die Durchsetzung grüner Politik sind abhängig von der Veränderung der politischen Kultur. Drei Gesichtspunkte sind hier zentral: die demokratische Verfassung der Gesellschaft insgesamt (1), die Abhängigkeit der Grünen von einem Netz intermediärer Strukturen (2) und die innerparteiliche Demokratie (3).
1. Es war eine zentrale Erfahrung der Grünen, die zur Entstehung der Partei und der von ihr ausgebildeten Politikform geführt hat, daß der Wahlmechanismus für sich genommen keine Demokratie garantiert, daß politische Wahl und Mehrheitsprinzip eher den Status quo begünstigen.
2. Von den Grünen gehen nicht nur keine Impulse für die Stabilisierung demokratischer Strukturen aus, mehr und mehr wirken sie auch selber an der Verödung des politischen Raumes mit. Am Anfang ihrer Entwicklung wußten die Grünen noch, welche hohe Bedeutung die sozialen Bewegungen und die vielen Initiativen für eine tiefgreifende Veränderung der politischen Kultur in der Bundesrepublik haben. Die Grünen bezogen sich auf sie und wollten Bewegungs-, nicht einfach Wahlpartei sein. Hier hat sich vielleicht der größte Bruch in der Geschichte der Grünen vollzogen. Immer weniger ist die grüne Partei mit ihrer gesellschaftlichen Umwelt verknüpft. Sie ist zur Wählerpartei geworden, mit einer extrem geringen Mitgliedschaft. Eine Kommunikation mit ihren Wählern findet fast nur noch über die Medien statt. Für einen dieser Entwicklung entgegenwirkenden Aufbau von Strukturen der politischen Öffentlichkeit haben die Grünen zuletzt kaum etwas getan.
Grüne im Machtzentrum?
Unterstellt, daß mit dieser kursorischen Analyse die gegenwärtige Verfassung der Grünen Partei annähernd richtig beschrieben worden ist, was folgt daraus für die den hessischen Grünen nahegelegte Strategie, das Innenministerium zu übernehmen und dafür eines der Ministerien aufzugeben, in denen sie bisher versucht haben, ein grünes Profil zu entwickeln? Für die grünen Strategen lautet die Antwort: Damit stehen die Grünen nicht mehr am Rand, sondern im Zentrum der Macht. Wenn sie aber im Zentrum der Macht stehen, wird ihre Stellung auch gegenüber zukünftigen Koalitionspartnern aufgewertet und gestärkt. Es ist trivial, daß Parteipolitik nur mit dem Anspruch auf Teilnahme an der Macht die notwendige Durchsetzungsfähigkeit erreicht. Nicht ob Macht, sondern wie und welche Macht angestrebt werden, müssen sich die Grünen fragen, wenn sie weiterhin dem Konzept gesellschaftlicher Veränderung folgen wollen, mit dem sie angetreten sind.
Welche Sorte von Macht gewinnt man mit dem Innenministerium? Zunächst ist zu bezweifeln, daß sich hier überhaupt ein Bereich mit durchgreifender gesellschaftlicher Macht eröffnet. Man darf nicht vergessen, daß im Laufe der Entwicklung viele Politikfelder (zuletzt die Umweltpolitik) aus dem Bereich der Politik des Inneren ausgegliedert worden sind, so daß es nicht abwegig ist, das Innenministerium am Ende einer langen Geschichte als ein Rumpfministerium der abstrakten Ordnung, ohne jede Möglichkeit einer materiellen Politikgestaltung zu bezeichnen. Die Führung und Kontrolle von Polizei, Geheimdiensten und so weiter bedeutet noch nicht per se gesellschaftliche Macht, wie Sozialpolitik nicht per se mit Ohnmacht gleichzusetzen ist. Die grünen Strategen scheinen sich auf ein Bild von Macht zu beziehen, bei dem nicht mehr zwischen den Insignien der Macht und der Macht selber unterschieden wird. Wenn potentielle Koalitionspartner sich hier täuschen, müssen die Grünen das nicht nachmachen.
Auf die eigenen Stärken besinnen
Aber selbst wenn sich hier mehr reale Macht konzentrieren würde, als dies tatsächlich der Fall ist, wäre nicht klar, wozu diese Macht den Grünen nutzen würde. Warum sollten die Grünen sich damit beschäftigen, inwiefern können sie hier mehr Kompetenz mitbringen als die SPD, und welches ihrer sonstigen Projekte könnte dadurch gefördert werden. Ich zweifle daran, daß man eine Aufgabe aus dem Innenministerium nennen könnte, die zumindest den Rang, sagen wir der Pflegeversicherung oder der Erhaltung der Solidargemeinschaft der Pflichtversicherten, besitzen würde.
Am schwersten aber wiegt wohl, daß bei einer Übernahme des Innenministeriums genau das fehlen würde, was sich von anderen Ministerien aus entwickeln läßt, nämlich der Bezug zu einem Netz von Initiativen, die in den Prozeß der Politikentwicklung mit einbezogen werden können. Es gibt keine sozialen Bewegungen für eine bessere Polizei. Gerade das, was die Grünen jetzt als ihre Aufgaben ansehen sollten, nämlich die gefährliche Distanz, die sich zwischen Politik und Publikum entwickelt hat, überbrücken zu helfen und zu diesem Zweck stärker als in der Vergangenheit Prozesse von gemeinsamen Beratungen und Verhandlungen in Gang zu setzen, wäre vom Innenministerium aus blockiert.
In keinem Fall könnte der Gewinn den Verlust ausgleichen, der durch die Aufgabe eines der jetzt besetzten Ministerien entstehen würde. Man darf nicht vergessen, daß ein großer Teil der Wähler der Grünen in den Bereichen arbeitet, die durch das Umwelt- und Sozialministerium erreicht werden. Es ist naheliegend, daß die grünen Wähler von der grünen Partei einen Gestaltungswillen gerade auch in den Bereichen erwarten, in denen sie mit ihrer Existenz verankert sind.
– Mit der Aufgabe eines der jetzt besetzten Ministerien verlassen die Grünen nicht nur ein Feld, in dem sie in für ihre Wählerklientel zentrale gesellschaftliche Fragestellungen vorgestoßen sind, sondern sie entfernen sich deutlich von den Milieus, aus denen sie ursprünglich einmal stammten (und die heute noch das eigentliche Wählerreservoir darstellen).
– Sie beenden eine Akkumulation von Kompetenzen, mit denen eine angemessene Ausformung grüner Politik zwar noch nicht erreicht, aber doch vorbereitet wurde. Statt nun die gewonnenen Kompetenzen zu nutzen, um überzeugende, das grüne Profil ausdrückende Gesamtkonzepte auszuarbeiten, wird die Arbeit abgebrochen.
– Darüber hinaus ziehen sich die Grünen auch aus den einzigen Strukturen der politischen Öffentlichkeit zurück, die sie aufzubauen mitgeholfen haben. Mit der Schwerpunktverlagerung ins Innenministerium wird die Kommunikation der an dem grünen Projekt Interessierten mit den Grünen noch mehr abreißen, als das jetzt schon der Fall ist.
Es fehlen Zeit und Kraft für Konzeptionen
Das Problem der Grünen ist nicht, daß sie bisher zuwenig in das Zentrum der Macht vorgestoßen sind, sondern daß sie in bezug auf ihre eigene Aufgabenstellung nicht über die ersten Schritte hinausgekommen sind. Es fehlen die Zeit und die Kraft zur konzeptionellen Klärung der eigenen Politik. Kein Wunder, daß von denjenigen, die sich im alltäglichen politischen Machtkampf verschleißen, keine Initiative mehr zu einer intensiven Klärung der Grundlagen der eigenen Politik ausgeht: die Pinkelpausen des Betriebes reichen hier eben nur noch für die schlauen Züge im Machtpoker. Zum Glück spricht alles dagegen, daß die Partei bereits so ausgedünnt ist, daß niemand mehr über taktisches Manövrieren hinaus denkt. Solange noch einige die an sich ganz undramatische Frage stellen, welche zentralen gesellschaftlichen Probleme denn durch grüne Politik gelöst werden sollen, an welcher Stelle dementsprechend Macht gewonnen werden muß und schließlich an letzter Stelle, welches Ministerium dieser Aufgabenstellung wohl am besten entgegenkommen würde, sind vielleicht noch dramatische oder zumindest spannende Debatten zu erwarten.
Der Autor ist Professor für Soziologie an der Universität Jena
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