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Blockaden und Urteile

Als erste nutzten die Schwaben die Aktionsform Sit-in  ■ Von Anita Kugler

Ich stehe nur, wenn ich nicht sitzen kann, und ich sitze nur, wenn ich nicht liegen kann.“ Dieses Bonmot verbreitete kein gelernter Müßiggänger, sondern ausgerechnet Henry Ford. 30 Jahre nach diesem Aperçu besetzten die Automobilarbeiter River Rouge, und ihre Frauen ließen sich vor den Fabriktoren nieder. Mit Dauer Sit-und Sleep-ins, drinnen und draußen, stritten sie für die Anerkennung ihrer Gewerkschaft. Betriebsbesetzung und Sitzblockade, um der Polizei zu trotzen und Streikbrecher zu verjagen – die amerikanische und niemals besonders pazifistische Arbeiterbewegung erfand eine neue Variante im Klassenkampf. Ob die Automobilarbeiterfrauen die ersten – letztendlich erfolgreichen – Sitzblockiererinnen gewesen sind, ist dennoch zu bezweifeln, die Geschichte dieser Demonstrationsform ist noch nicht geschrieben. Und beim Stichwort Arbeiterbewegung heißt die Assoziation eher „marschieren und besetzen“ als „sitzen und blockieren“.

Diese friedlichere Form des Protestes wurde in Deutschland in den frühen achtziger Jahren äußerst populär. Nach Ostermärschen und Friedensdemos gegen Wiederbewaffnung, Aufrüstung und Nato-Raketenbeschluß suchte man und frau neue Aktionsformen im „gewaltfreien Kampf“ und fand sie in den Sitzblockaden. Zuerst im Schwäbischen, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die sonst üblichen Demonstrationstrendsetter in Berlin noch mit dem Häuserkampf beschäftigt waren. Mit Schriften von Ghandi im Gepäck und Decken und Thermoskannen unterm Arm zogen die Schwaben vor die Munitionsdepots von Bundeswehr und amerikanischen Kasernen.

Die vermutlich erste aufsehenerregende Sitzblockade fand vom 28. Juli bis 12. August 1982 vor dem Atomwaffendepot in Großengstingen, Kreis Reutlingen statt. Unter dem Motto „Schwerter zu Pflugscharen“ ließen sich 700 Friedensdemonstranten vor der Eberhard-Finckh-Kaserne friedlich nieder und ließen sich von der Polizei wegtragen, wenn Laster in die Kaserne wollten. Dennoch bekamen später 380 Blockierer eine Anzeige wegen „Nötigung“, Verfahren, die noch Jahre danach ganze Heerscharen von Staatsanwälten von verschiedensten Instanzen beschäftigten.

Vor allem in den heißen Friedensmonaten Februar bis Oktober 1983 „nötigten“ Tausende überall und wurden dafür verurteilt. Immer dabei: die Menschen von Großengstingen. Der Beschluß des Bundesverfassungsgerichtes von gestern, daß die damalige „Nötigung“ keine ist, geht auf eine Blockade im Mai 1993 zurück.

Aber genötigt wurde ebenfalls zu Ostern 1983 vor den Wiley Barracks in Neu-Ulm (300 Anzeigen), permanent im Pershing-Standort Mutlangen (100 Anzeigen) und in Bitburg (320 Anzeigen), vor dem Munitionsdepot Feucht bei Nürnberg (80 Anzeigen), vor dem Heeresamt in Köln (100 Anzeigen), vor dem Bundesverteidigungsministerium in Bonn (100 Anzeigen) und vor der Europäischen Kommandozentrale der US-Armee in Stuttgart (300 Anzeigen).

Bei den vielen Prozessen, die damals liefen, erreichte der gegen Inge und Walter Jens, die gemeinsam mit Heinrich Böll, Günter Grass, Heinrich Albertz, Petra Kelly, Gert Bastian, aber auch gemeinsam mit dem Jungpolitiker Oskar Lafontaine in Mutlangen dauerblockierten, die größte Aufmerksamkeit. „Nötigung, Herr Richter? Ist es Nötigung, zu versuchen, durch symbolische Aktionen Menschen zu differenziertem Nachdenken zu veranlassen, über Gefahren, denen nur durch radikales Umdenken zu begegnen ist?“ Das Plädoyer von Inge Jens war vergebens. Der Schwäbisch Gmünder Richter Werner Offenloch verurteilte sie wegen „gemeinschaftlicher Nötigung“ zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu 35 Mark.

Und unvergessen ist der Prozeß gegen einen Demonstranten von Neu-Ulm, der sich vor Gericht mit Sophokles-Zitaten und in altgriechisch verteidigte und den das Gericht deswegen neben der Nötigung auch noch wegen einer „Lächerlichkeit-Machung“ des hohen Hauses mit einer Geldstrafe von 300 Mark bestrafte.

Das Urteil des Verfassungsgerichtes nannte der grüne Bundestagsabgeordnete Rezzo Schlauch, 1983 in Mutlangen dabei, gestern eine „schallende Ohrfeige für die Richter“, die damals Urteile am Fließband sprachen.

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