: Das Mißtrauen sitzt tief
Saddam Husseins Erbe, die Destabilisierung durch die Nachbarstaaten und Klientelpolitik sind die entscheidenden Hindernisse auf dem Weg zur Demokratie in Irakisch-Kurdistan / Kollaborateure und Islamisten sind die Gewinner ■ Aus Arbil Rizgar Dostani
„Brüderlichkeit“ und „kurdische Einheit“ lauten die vielbeschworenen Losungsworte in den kurdischen Provinzen des Irak, die seit Frühjahr 1991 autonom sind. Die Parolen hindern jedoch die Mitglieder der „Demokratischen Partei Kurdistans“ (KDP) von Massud Barsani und der „Patriotischen Union Kurdistans“ (PUK) unter Dschalal Talabani nicht, immer wieder die Waffen aufeinander zu richten – trotz zahlreicher Waffenstillstandsabkommen.
„Die PUK will mit einem Militärcoup an die Macht gelangen“, sagt Sami Abdurrahman, Mitglied des Zentralkomitees der KDP. „Barsani will unbedingt Präsident werden, egal um welchen Preis“, kontert Naushirwan Mustafa, zweiter Mann der PUK. Das Mißtrauen zwischen den Funktionären der verfeindeten Parteien sitzt tief. In dem Konflikt geht es jedoch um mehr als den Machtkampf zwischen Barsani und Talabani, jenen beiden Männer, die sich seit mehr als 30 Jahren die Führung der irakisch-kurdischen Nationalbewegung streitig machen. Innenpolitische Entwicklungen und die Abhängigkeit von den Entscheidungen der internationalen Politik machen den Weg der irakischen Kurden in die Demokratie schwierig. Umgeben von den Nachbarstaaten Türkei, Iran und Syrien, die mit Terroranschlägen, Bombenangriffen und Schließungen der Grenzen die innere Sicherheit unterminieren, weil sie von den Entwicklungen eine Modellwirkung für ihre eigene verfolgte kurdische Minderheit befürchten, ist es nicht leicht, einen Weg in die gesellschaftliche Erneuerung zu finden.
Ein radikaler Bruch mit der Diktatur Saddam Husseins kann nicht vollzogen werden, weil der gesamte Irak offiziell noch immer von der Baath-Partei regiert wird. „Man würde uns sofort jegliche Unterstützung entziehen, wenn wir die politische Unabhängigkeit fordern würden“, erläutert ein kurdischer Politiker. Diese Ansicht ist zwischen allen Parteien Konsens.
Keine internationale Anerkennung
Bis heute hat kein Staat der Welt die in Arbil residierende kurdische Regionalregierung anerkannt. So bleibt den KurdInnen nur ein Lavieren zwischen dem internationalen Recht, nach dem ihre Abkoppelung von Bagdad vorrangig eine innere Angelegenheit des Irak ist, und dem Bestreben, dem irakischen Regime eine demokratische Alternative entgegenzusetzen. Gewonnen haben dabei vorerst die Kollaborateure, die vor dem Aufstand im Frühjahr 1991 auf seiten der Diktatur standen.
Um die Bevölkerung während der Erhebung nicht zu spalten, verhängte die Kurdistan-Front – der Zusammenschluß der maßgeblichen kurdischen Parteien – 1991 eine Generalamnestie für ehemalige Helfershelfer Saddam Husseins. Zahlreiche ehemalige Kollaborateure wittern eine neue Chance, indem sie sich einer der beiden großen Parteien anschlossen. Umgekehrt haben es KDP und PUK versäumt, soziale Reformen durchzuführen. Statt dessen werden die bestehenden sozialen Strukturen bestärkt, ehemalige Kollaborateure, Stammeschefs und Großgrundbesitzer hofiert.
Einer von ihnen ist Ali Haso Mir Khan. Das KDP-Mitglied war früher Großgrundbesitzer bei Qala Dize in der Pishder-Region, bis ihn die Baathisten vertrieben. Am 1. Mai letzten Jahres zog er mit einer Miliz gegen die Bauern los, die jetzt „sein“ Land nutzten. Die Bauern holten sich Unterstützung bei der KDP, die ersten Schüsse fielen und die schwerste innerkurdische Krise seit der Befreiung vom irakischen Regime hatte begonnen.
Die Landrechtsfrage ist eines der brisantesten Probleme in der Region. Die Aghas, die kurdischen Großgrundbesitzer und Stammeschefs, verurteilen die vom irakischen Regime durchgeführte Landreform als antikurdische Maßnahme und fordern ihre verlorenen Ländereien zurück. Bauern und Landarbeiter sehen das anders. Weil sich die Kontrahenten zumeist in den Schutz der Parteien flüchten, kann aus einem Streit um ein Stück Land fast täglich ein Parteienkrieg entstehen.
Einer der ständigen Krisenherde der Region ist Chamchamal, das zwischen Kirkuk und Sulaymaniya liegt, direkt an der Demarkationslinie zum von Bagdad kontrollierten Gebiet. Seit langem stehen dort vier verschiedene Stämme und deren Aghas mit den Misken, den armen Landarbeitern, im Streit. Einer von ihnen ist Hama Regir. Jahrelang war er Mitglied der KDP. Doch als einer der berüchtigsten Stammeschefs der Region, Kollaborateur mit dem Bagdader Regime, Mitglied der Partei wurde, wechselte Hama Regir zur PUK. Wenig später wurde er wegen illegalen Verkaufs von Schafen verhaftet. Bis zum Ausbruch der innerkurdischen Kämpfe am 1. Mai letzten Jahres saß er im Gefängnis. Die PUK ließ ihn frei, unter der Bedingung, daß er mit seiner Truppe gegen die „Islamische Bewegung Kurdistans“ kämpfe. Er tat dies mit einigem Erfolg und forderte dafür den Posten des Sicherheitschefs. Als ihm dieser verweigert wurde, wechselte er wieder zur KDP. Als wenig später ein Anschlag gegen mehrere regionale PUK-Funktionäre unternommen wurde, galt es als ausgemacht, daß Hama Regir dahintersteckte. Dieser beteuerte jedoch seine Unschuld. Die Aghas, mittlerweile unterstützt von der PUK, griffen daraufhin die Misken an. Eine extra angereiste Parlamentarierdelegation konnte verhindern, daß sich die Kämpfe ausweiteten.
Die Streitigkeiten der Parteien entpuppen sich bei genauerem Hinsehen häufig als Konflikte zwischen traditionellen Loyalitäten. Daß die Kämpfe im vergangenen August in der Region von Qala Dize ausbrachen, ist darauf zurückzuführen. In dem Gebiet sind die Stammesstrukturen besonders stark verankert. Die dort im Mai getöteten Kurden gehörten nicht nur zu einer Partei, sie waren auch Angehörige des gleichen Stammes, der für die Opfer Tribut verlangte. Es war also abzusehen, daß Familienstreit und Parteienzwist ineinander übergehen würden.
Auf eine umfassende Gesellschaftsreform und eine Entmachtung der Parteiapparate und von deren Milizen besteht derzeit wenig Hoffnung. Die 1992 demokratisch gewählten ParlamentarierInnen haben wenig Einfluß. Die Verantwortung dafür liegt nicht zuletzt bei Barsani und Talabani. Weil keine der beiden Parteien die Wahlen verlieren wollte, einigte man sich auf ein Verteilung der Sitze 50 zu 50. Das offizielle Wahlergebnis hat 49 Prozent für die PUK ergeben und 51 für die KDP. Aus Gründen des Proporzes wurden sämtliche Ministerposten doppelt besetzt: Ein Minister der KDP erhielt einen Stellvertreter der PUK und umgekehrt. Beide begannen unweigerlich, gegeneinander zu arbeiten.
Weil beide Parteien den Löwenanteil der mageren Einnahmen der Regierung kassieren, ist das Kabinett praktisch zahlungsunfähig. Die maßgeblichen Zolleinnahmen von der türkischen Grenze fließen zudem ausschließlich in die Kassen der KDP, denn die Partei kontrolliert das Grenzgebiet. Während die beiden Parteien einen großen Apparat unterhalten, fehlt es an Geldern für staatliche Bedienstete. Da sämtliche Behörden ebenfalls von beiden Parteien doppelt besetzt sind, sind Korruption und Vetternwirtschaft Tür und Tor geöffnet.
Gewinner des Machtkampfes zwischen PUK und KDP ist bislang die Islamische Bewegung. In ihrer Hochburg Halabdscha träumt ihr Sprecher, Abdurrahman Muhammad Arif, sogar von der Regierungsübernahme. „Für 99 Prozent der Kurden im Irak trifft unser Programm zu“, meint er. Die Allianz mit der KDP gegen die PUK im Sommer vergangenen Jahres hat den Islamisten dazu verholfen, daß sie nicht nur ihre Parteibüros wieder eröffnen konnte, sondern auch mit Milizen in den Städten vertreten sind. Dank iranischer und saudiarabischer Unterstützung verfügt die Organisation zudem über genügend Geld.
Verloren haben die Gegner einer weiteren Islamisierung der kurdischen Gesellschaft. Die Lehrerin Naziq B. ist wochenlang nicht mehr nach Halabdscha gefahren, obwohl sie dort mehrere Hilfsprogramme betreut – aus Angst, sie könnte von militanten Islamisten angegriffen werden. Wie viele will sie so schnell wie möglich weg: nach Europa oder Amerika. Doch es ist nicht nur die Islamische Bewegung, die für Unmut sorgt. Der Schriftsteller und Mitherausgeber der Kulturzeitschrift Azadi (Freiheit), Bakhtiyar Ali, erhielt vom Gouverneur von Sulaymaniya Auftrittsverbot, weil er sich kritisch zu politischen Entwicklungen innerhalb der PUK geäußert hatte. Erst auf Intervention des auch international bekannten kurdischen Dichters Sherko Bekes wurde das Redeverbot wieder aufgehoben. Genährt aus politischer Enttäuschung und sozialer Not ist es die Hoffnungslosigkeit, die die Menschen wegtreibt.
Die ökonomische Krise ist nicht zu übersehen, verursacht durch das UN-Embargo gegen den gesamten Irak einerseits, durch den von Saddam Hussein zusätzlich gegen die Kurden verhängten Boykott andererseits. Zwar wurde mit internationaler Hilfe ein Großteil der von irakischen Truppen zerstörten Dörfer wieder aufgebaut. Die vom Baath-Regime betriebene Militarisierung der Gesellschaft läßt sich mit solchen Programmen aber kaum überwinden. Heute gibt es ein Heer von arbeitslosen Peschmerga, die keine Berufsausbildung haben. Sie wenden sich an die, von denen sie am ehesten Hilfe erwarten können: an ihre Vorgesetzten während des Kampfes und an ihre Partei. Diese bieten ihnen Jobs bei Sicherheitsdiensten, Spezialeinheiten und dem Militär. Kurdistan benötigt ein Programm zur Integration der Kämpfer in eine zivile Gesellschaft. Dagegen steht aber, daß der gegenwärtige Schwebezustand im Nordirak die Entwicklung einer Zivilgesellschaft nicht zuläßt.
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