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Das Polit-Theater entgleitet den Regisseuren

Mexikos politische Klasse befindet sich in tiefster Krise. Die Mächtigen von gestern taumeln zwischen Wirtschaftscrash und Mordanschuldigungen; das Vertrauen der Bevölkerung haben sie gründlich verspielt.  ■ Aus Mexiko-Stadt Anne Huffschmid

Das Tequila-Syndrom, wie ausländische Medien den mexikanischen Währungscrash und seine Folgen für die internationalen Finanzen zu nennen pflegen, hat auch eine innenpolitische Variante: Um 12 Prozent ging der Verbrauch des Nationalgetränks in den letzten drei Monaten zurück. Möglicherweise ist auch das ein Indiz für das neue Lebensgefühl, das die eigentlich regierungstreue Zeitschrift Epoca mit ihrer jüngsten Schlagzeile, „Rette sich wer kann!“, auf den Punkt bringt: „Wir befinden uns in einem Zustand absoluter Konfusion“, bekennen selbst erfahrene Experten wie der Historiker Jean Meyer, „niemand weiß, was morgen passieren wird.“

Etwas Theatralisches hatte die mexikanische Politik schon immer: eine permanente Inszenierung in wechselnder Besetzung, bei der die Mehrzahl der MexikanerInnen zwar gelegentlich als Statisten auftreten, ansonsten aber im Zuschauerraum mäßig interessiert die Geschehnisse auf der Bühne verfolgen und dabei fast nie einen Blick hinter die Kulissen werfen können. Neu ist, daß die Inszenierung ihren Regisseuren zu entgleiten scheint.

Das Drehbuch gerät aus der Bindung, und ganz sicher ist dabei lediglich, daß in Mexiko etwas zu Ende geht. Nicht nur der Mythos vom sozialen Frieden, den die ZapatistInnen und ihre zivilen AnhängerInnen letztes Jahr so anschaulich ad absurdum geführt haben, nicht bloß der Traum vom mexikanischen Wirtschaftswunder oder die Vorstellung von der unsterblichen revolutionären (PRI-)Familie. Zerbrochen ist auch die Fiktion nationaler Souveränität: eine „Demütigung gegenüber den USA“, wie die Wochenzeitschrift Proceso im Januar titelte, während die gesamte Nation den Atem anhielt und betete, daß der US-Kongreß sich ihrer erbarmen möge.

Die Geldspritze wurde schließlich bewilligt – zusammen mit IWF-Geldern von 50 Milliarden, selbstredend ausschließlich zur Bezahlung der Schulden und nicht etwa zur Wiederbelebung der brachliegenden Wirtschaft – als Sicherheit dienen ausgerechnet die Erdöleinnahmen, die seither auf ein Sonderkonto in den USA eingezahlt werden.

Und während Präsident Ernesto Zedillo sich bemüht, dem Ausland die Angst vor einer Finanzkrise wie 1982 zu nehmen – als die erklärte Zahlungsunfähigkeit Mexikos die Weltfinanzen zeitweise ins Chaos stürzte –, flammt bei der Bevölkerung ein verzweifelter Nationalismus wieder auf. Bei ihren Protesten gegen das Sparprogramm, das die Regierung am 9. März verkündete, eint ArbeiterInnen, campesinos und Unternehmertum vor allem eine Forderung: die Regierung solle, statt das eigene Land „ausbluten“ zu lassen, lieber die Zahlungen an die ausländischen Gläubiger einstellen.

Trotz der dramatischen Wirtschaftsentwicklung ist der „Kollaps“, vor dem Präsident Zedillo die Nation am vergangenen Wochenende in einer Fernsehansprache warnte, vor allem politischer Natur. Denn weitaus bedrohlicher als der Vertrauensschwund ausländischer Investoren dürfte für die politische Klasse das verlorene Vertrauen der eigenen Leute sein – quer durch alle politischen Lager und alle sozialen Schichten.

Die Erbitterung ist verständlich. Was seit vielen Jahren als Ahnung durch das kollektive Unterbewußtsein geistert, ist spätestens seit den Attentaten auf zwei hochstehende PRI-Politiker im letzten Jahr zur Gewißheit geworden: ein durch und durch korrumpierter Staats- und Parteiapparat, der immer weniger auf der Grundlage eines politischen Konsenses und immer mehr in Abhängigkeit von Mafias und Drogenkartellen funktioniert. – Ein besonders perfides Beispiel dafür ist der Fall des Mario Ruiz Massieu. Bis Ende letzten Jahres leitete der junge Jurist als Staatsanwalt die Ermittlungen zum Attenat auf seinen Bruder, den im September 1994 ermordeten Generalsekretär der PRI, José Francisco Ruiz Massieu. In einer spektakulären Pressekonferenz erklärte er im November seinen Rücktritt und beschuldigte zudem niemand Geringeren als den Bundesstaatsanwalt und die gesamte PRI-Führung, die Drahtzieher zu decken. Ein neuer Volksheld war geboren: endlich ein Funktionär, der sich als neuer Saubermann daranmachte, die „Kloaken der Macht“ zu öffnen, und vor nichts und niemandem zurückzuschrecken schien.

Nur ein einziger blieb von seinem Rundumschlag gegen die „Dämone der Macht“ verschont – Carlos Salinas de Gortari. Einen Sinn ergab diese eigentümliche Rücksichtnahme erst drei Monate später. Am 3. März wurde Mario Ruiz Massieu, der mittlerweile ein Buch mit dem großspurigen Titel „Ich klage an“ veröffentlicht hatte, auf dem Weg nach Houston wegen Devisenvergehen von den US-Behörden verhaftet. Bei sich trug er 40.000 Dollar, und allem Anschein nach hatte er die Absicht, sich in die USA abzusetzen. Wie jetzt erkannt wurde, wartete dort ein Vermögen von 20 Millionen Dollar auf ihn – höchstwahrscheinlich Gelder von „Narcos“, die den Ex-Funktionär für seine „selektiven Ermittlungen“ großzügig belohnten.

In Mexiko beschlagnahmten die Behörden diese Woche zwei luxuriöse Anwesen – eines davon ein Geschenk der Familie Salinas – und beantragten in den USA die Auslieferung von deren Besitzer. Denn inzwischen gilt als sicher, daß der ehemalige „Saubermann“ bei den Untersuchungen zum Mord an seinem eigenen Bruder alle Hinweise auf einen anderen prominenten Bruder unterschlagen hatte: Präsidentenbruder Raúl Salinas de Gortari.

Dieser war erst wenige Tage vor der Festnahme von Ruiz Massieu, am 28. Februar, auf Geheiß des neuen Präsidenten Zedillo unter Mordverdacht inhaftiert worden. Inzwischen sei „zweifelsfrei“ bewiesen, so Chefermittler Pablo Chapa, daß der große Bruder des Ex-Präsidenten die Ermordung von Francisco Ruiz Massieu tatsächlich in Auftrag gegeben habe. War zunächst noch von einem „Verbrechen aus Leidenschaft“ die Rede, so lautet die offizielle Begründung jetzt, daß der Ermordete eine „politische Bedrohung“ für die kriminellen Netzwerke des Raúl Salinas dargestellt habe.

Aber auch das ist vermutlich nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit, so glauben Experten wie der Ex-Drogenfahnder Eduardo del Valle, seien sowohl Luis Donaldo Colosio, der im März ermordete Präsidentschaftskandidat der PRI, wie auch Ruiz Massieu Opfer konkurrierender Drogenmafias und narcopoliticos geworden. Alle beide waren zu „Märtyrern der Demokratie“ hochstilisiert worden – dabei, so die Experten, sei zumindest Ruiz Massieu durchaus nicht unbeteiligt gewesen: Er habe engen Kontakt zum sogenannten Pazifik-Kartell von Tijuana gehalten, mit dem die Gebrüder Felix Arellano den Vertrieb von mexikanischem Marihuana und kolumbianischem Kokain im Westen der US-Grenze kontrollieren. Raúl Salinas dagegen stand mit der Konkurrenz in Verbindung: mit dem Boß des Matamoros-Kartells an der Golfküste, Juan Garcia Abrego, dessen jährliche Einkünfte von den US-Behörden auf 20 Milliarden Dollar geschätzt werden und der vom FBI inzwischen als einer der zehn public enemies der USA gesucht wird.

Wenn Garcia Abrego aber tatsächlich einer der „Hauptfinanciers der politischen Klasse in Mexiko“ sein sollte, wie ein renommierter Wirtschaftsjournalist kürzlich bemerkte, kann dieser wenig daran gelegen sein, den Mann zu fassen. Im Kampf um neue Absatzmärkte im Badeparadies Acapulco, wo man nach außen hin „nur“ um ein großangelegtes Tourismusprojekt konkurrierte, sind die beiden mächtigen Männer aneinandergeraten – der Ausgang der tödlichen Fehde ist bekannt.

Mit dem Prozeß gegen Raúl aber geriet auch der ohnehin arg angeschlagene Carlos erneut ins Zwielicht: Schließlich hatte der Präsident die Machenschaften seines „unbequemen Bruders“ stets gedeckt und diesem zudem einträgliche Posten zugeschoben. So zum Beispiel in der Koordination seines populären Armutsbekämfungsprogramms „Solidarität“ oder dem staatlichen Lebensmittelvertrieb Conasupo. Proceso deckte jetzt auf, wie Raúl Salinas mit billig importierten Lebensmitteln spekulierte und dem Maismehlfabrikanten González Barrera, dem sogenannten Tortilla- Zaren, subventionierte Mais-Importe zukommen ließ.

Die Anstandsregeln des guten alten Polittheaters scheinen außer Kraft gesetzt, das Publikum scheint zutiefst verstört zu sein.

Auch im Fall Colosio wurden all diejenigen, die einst vor übereilten Verschwörungstheorien gewarnt hatten, inzwischen eines Besseren belehrt: Elf Monate nach dem Mord wurde Ende Februar der zweite Todesschütze festgenommen – die Einzeltäterthese, an die die MexikanerInnen sich allmählich gewöhnt hatten, ist damit endgültig vom Tisch. Zentrales Beweismaterial sei im Laufe der Ermittlungen offenbar manipuliert worden, so der ehemalige Bundesstaatsanwalt Diego Valadés, die Frage nach den Hintermännern des „Komplotts“ sei nach wie vor offen.

Selbst der Mord an Kardinal Posadas, der im Februar 1993 auf dem Flughafen von Guadalajara erschossen wurde, wird mittlerweile wiederaufgerollt. Dabei werde man auch die Hypothese eines vorsätzlichen Mordes wieder „berücksichtigen“, versicherten die Ermittler. Bisher waren sie zu dem Schluß gelangt, der Kardinal sei mit einem der Mafiabosse „verwechselt“ worden – die Tatsache, daß der Leichnam 21 Einschüsse aus kürzester Entfernung aufwies, hatte diese These immer schon etwas zweifelhaft erscheinen lassen. In Insider-Kreisen kursiert nun die Vermutung, der Kardinal habe als Vermittler zwischen dem Golfkartell und der Regierung fungiert.

Die erklärte Absicht des neuen Präsidenten Zedillo, die drei brisanten Morde und die dahinterstehenden Verflechtungen „lückenlos“ aufzudecken, ist nur als geschickt inszenierte „Flucht nach vorn“ zu verstehen. Zedillo, der sein Amt vor dreieinhalb Monaten als blasser unerfahrener Technokrat angetreten hatte, ist einen Schritt weitergegangen als in der Abgrenzung zum scheidenden Präsidenten sonst üblich: Die Verhaftung einen Familienangehörigen des Vorgängers ist neu und immerhin so ungehörig, daß der Historiker Enrique Krauze schon euphorisch von einer Art „mexikanischer Glasnost“ spricht.

So schnell wie „Wall Street's Darling“ Salinas (Time) ist noch kein Ex-Präsident in Ungnade gefallen. Viele derjenigen, die ihrem ehemaligen Staatschef bei seinem grotesken Hungerstreik im Februar ein verächtliches „Soll er doch krepieren!“ hinterherriefen, hatten ihn sechs Jahre lang toleriert, gefeiert und – indirekt – im vergangenen Sommer sogar wiedergewählt. „Salinas suchte nicht Anhänger, sondern Statisten für sein Theaterspiel“, so der Schriftsteller Carlos Monsiváis. „Und diese Statisten verlassen ihn jetzt, um zum nächsten Drehort aufzubrechen.“

Ebendieser Opportunismus ist einer der Grundstoffe der autoritären politischen Kultur im Lande – und das Hindernis jeder wirklichen Demokratisierung von unten. So hofft Enrique Krauze auch auf eine Modernisierung von oben: Zedillo solle die Chance des Crashs nutzen, „dem System endlich den Gnadenschuß zu verpassen“. Das würde allerdings voraussetzen, daß der neue Präsident gewillt wäre, an dem Ast zu sägen, auf dem er selbst sitzt.

Zweifellos hat der – öffentlich gewordene – mafiose Sumpf zusammen mit dem fatalen Wirtschaftscrash das Land heute an den Rand der Unregierbarkeit und in ein gefährliches politisches Vakuum getrieben. Und an die Stelle der massenhaften Mobilisierung, auf die einige in der Folge der Zapatistenrevolte gehofft hatten, scheint heute wieder Politikverdrossenheit und ein wütender Fatalismus getreten zu sein. Der schwelende Bürgerkrieg in Chiapas ist dabei längst zum Nebenschauplatz geworden.

Obwohl auch ihre schärfsten Kritiker heute zugeben müßten, daß die zapatistische Rede vom „korrupten System“ von der Wirklichkeit längst bestätigt worden ist, wirkt diese Wirklichkeit eher lähmend als aufrüttelnd. Auch Krauze ist wenig optimistisch in bezug auf die zu erwartenden Widerstände: Rechnen müsse man mit „einer möglichen Rebellion der gewerkschaftlichen und bürokratischen Mafias der PRI, einer Zunahme des Drogenhandels, neuen Attentaten und der unwahrscheinlichen, aber keinesfalls ausgeschlossenen Versuchung eines Militärputsches“.

Unterdessen fällt der Peso, trotz Schockprogramm, weiter ins Bodenlose. Und eine politische Kraft, die bei der absurden Polittragödie die Regie übernehmen könnte, ist zur Zeit nicht in Sicht. Der Vorschlag des linken Oppositionsführers Cuauhtemoc Cárdenas, der im Januar zur Bildung einer pluralen „Regierung zur Rettung der Nation“ aufgerufen hatte, harrt noch immer seiner Umwandlung in eine gangbare politische Alternative. Bis dahin: The show must go on.

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