■ Neokommunistische Dissidenten – Retter der Regierung: Der Charme wechselnder Mehrheiten
Auf den ersten Blick wird Italien lediglich wieder mal seinem Ruf gerecht: Instabilität, Regierungskrise und die Lira im freien Fall. Dabei hauen die Parteien weiter wild aufeinander ein, ja mehr noch: Auch innerhalb der politischen Gruppierungen geht es drunter und drüber. Mittlerweile gilt es schon fast als obszön, wenn sich eine Partei nicht innerhalb weniger Monate mindestens ein- oder zweimal spaltet.
Die Kommunisten haben sich schon vor vier Jahren in Linksdemokraten (Partito democratico della sinistra, PDS) und Neokommunisten (Rifondazione comunista, RC) aufgelöst. Danach ist die industrienahe Republikanische Partei mitten entzweigegangen und hat nun den linksgeneigten Abspalter Demokratische Allianz neben sich. 1994 löste sich aus der sowieso nur im Norden vertretenen Lega Nord zuerst der föderalistische Flügel, dann, beim Ausscheiden der Ligen aus der Regierung Berlusconi, marschierte noch ein weiteres Drittel der Partei ab und bosselt inzwischen an einer eigenen Formation.
Unbestrittener Champion im Dauerspalten ist freilich die ehemalige Christdemokratische Partei (Democrazia cristiana, DC). Sie verlor schon 1991 den antimafiosen Flügel unter dem palermitanischen Bürgermeister Leoluca Orlando, dann 1993 die Referendums-Kämpen um Mario Segni, und versuchte danach als Italienische Volkspartei (Partito popolare italiano, PPI) neu zu entstehen. Das brachte eine erneute Abspaltung unter dem Namen Christlich- Demokratisches Zentrum mit sich; nun, nach dem Rechtsschwenk des PPI-Chefs Rocco Buttiglione, ist gar eine Verdoppelung passiert – zwei Parteien, die denselben Namen und dasselbe Parteisymbol beanspruchen, zwei Parteichefs, die sich beide legitimiert fühlen, zwei Chefredakteure der Parteizeitung. Jeder, der eine eigene Meinung hat oder ein paar Sponsoren für sich gewinnen kann, baut sich offenbar derzeit seine Partei.
Da fiel es sowohl in Italien wie im Ausland (hier vor allem) gar nicht mehr auf, daß es auch ein Beispiel ganz anderen Umgangs mit Dissidenten gibt, den der Rifondazione comunista. Gemeinhin gelten die Neokommunisten als reine Nostalgiker, haben auch tatsächlich eine Anzahl Altstalinisten (wie den Parteipräsidenten Armando Cossutta) in ihren Reihen und geben sich zur Abgrenzung gegen die sozialdemokratischen Vettern vom PDS als unbeirrbare Proletariats-Fundamentalisten.
Doch nun hat diese von vielen als so vorgestrig verschriene Partei vorgemacht, wie sich eine moderne politische Formation in Extremsituationen demokratisch und höchst verantwortlich verhalten kann, ohne darob ihre Identität und gesellschaftliche Basis verlieren zu müssen. Auch die Neokommunisten bewegten sich vergangene Woche auf die Spaltung zu: 16 ihrer 38 Abgeordneten unter Führung des 1993 abgewählten ehemaligen Vorsitzenden Andrea Sergio Garavini sprachen, gegen den Mehrheitsbeschluß des Fraktionsvorstandes und des Parteirates, der Regierung Dini das Vertrauen aus, Parteichef Bertinotti, der vorab gedroht hatte, wer gegen Fraktionsbeschlüsse verstoße, stelle sich automatisch außerhalb der Partei. Die RC-Stimmen haben angesichts des knappen Ergebnisses der Vertrauensabstimmung von 315 zu 309 die Regierung Dini gerettet.
Die Dissidenten reklamierten damit eine epochale politische Tat, weil die Alternative, der Sturz des Technokraten-Kabinetts Dini, sofortige Neuwahlen bedeutet hätte. Zwar wollen auch die Dissidenten möglichst bald zu den Urnen, weil die Umfragen die RC im Aufwind zeigen. Aber eine sofortige Auflösung des Parlaments hätte eine Reihe von Folgen gezeitigt, die umgekehrt auch die gegen Dini stimmenden Mitglieder der Rifondazione comunista ausdrücklich nicht wollten: Einen Wahlkampf ohne vorherige Regelung des Zugangs zu den elektronischen Medien und damit einen sicheren Sieg Berlusconis, die Vertagung der dringend notwendigen Rentenreform auf unbestimmte Zeit – vor allem aber die Aussetzung der für Juni vorgesehenen Volksabstimmungen, die wichtige Gesetzesänderungen mit sich bringen und die Allmacht Berlusconis im Medienbereich beenden könnten.
Obwohl auch die Fraktionsmehrheit für ihre Position beste Argumente hatte, gab es am Tag nach der Abstimmung die eigentliche Überraschung. Chef Bertinotti erklärte, niemand werde aus der Partei gefeuert, die Dissidenten stimmten sofort neuen klärenden Gesprächen zu. Das Gefühl, hier nicht vor einer ideologischen, sondern persönlichen Zerreißprobe jedes einzelnen gestanden zu haben, überwog.
Das vorbildliche Verhalten der Rifondazione hat noch eine weitere, grundsätzliche Dimension: Die Neokommunisten haben gezeigt, daß es selbst in Extremsituationen wie der Frage eines Regierungssturzes möglich ist, ohne unkittbaren Riß eine Entwicklung weiterzutreiben, die wohl in absehbarer Zeit auch bisher stabilere Systeme erfassen wird: das Regieren mit wechselnden Mehrheiten.
Italien, in der Regel neuen Entwicklungen gegenüber wendiger und aufmerksamer als die bedächtigen Nordlichter, hat schon seit einigen Jahren Erfahrungen damit gesammelt. So etwa während der Regierung Ciampi 1993, die sich ausdrücklich nicht von einer politischen Koalition stützen ließ, sondern sich die Mehrheiten eher querbeet zusammensuchte und dann innerhalb eines Jahres durch zähe Verhandlungsarbeit den ersten ausgeglichenen Staatshaushalt seit Jahrzehnten zusammenbrachte. Das Intermezzo Berlusconi mit seiner Polarisierung hat diese Entwicklung zunächst wieder etwas in den Hintergrund gedrängt, doch ausgerechnet der vormalige politische Berlusconi-Zögling Dini kommt nun wieder darauf zurück.
Den Deutschen und vielen anderen Europäern ist das Hantieren mit wechselnden Mehrheiten ein Greuel, weil es angeblich weniger Stabilität bedeutet und viel öfter mal Umdenken und Loslassen angeblich bewährter Prinzipiern erfordert. Vor allem aber widerspricht eine solche Politik den Aussitzertypen, die nach wie vor die deutsche Politik prägen. Trotz aller Aversionen – wenn nicht alles täuscht, hat sich aber auch hier mittlerweile schon das eine oder andere bewegt: Koalitionen gelten immer weniger als festgefügte Kartelle, und auch aus der Opposition heraus suchen sich zumindest die kleineren Partner mittlerweile denjenigen aus, der ihnen mehr für ihre Zusammenarbeit bietet.
Die Frage wird sein, ob sich in den Parteien anderer Länder Europas, kleinen und großen, irgendwann auch eine Einstellung breitmachen kann, wie sie die Rifondazione derzeit durch- und vorlebt: das Zusammenstehen auch dann, wenn die Partei bei Abstimmungen in unvereinbare Lager zerfällt. Werner Raith
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