: Aufopferung ist nicht die beste Pflege
Standortbestimmung zwischen Arzt und Patient: Kranken- und AltenpflegerInnen diskutieren über ihr berufliches Selbstverständnis, ethische Fragen und neue Aufgaben durch die Pflegeversicherung ■ Von Heide Platen
Der grüne Porzellanfrosch reißt gierig sein Maul auf. Er steht im Empfang einer Frankfurter Arztpraxis und bettelt um Trinkgeld. In einem renommierten Krankenhaus im Nordend wird dem Pflegepersonal, wie republikweit, das Bakschisch dezent in die Kitteltasche geschoben. Die beschönigende Frage nach der „Kaffeekasse“ ist megaout und wird gar nicht mehr erwartet.
Solche Beispiele hört Christine Spirk gar nicht gerne. Die gelernte Krankenschwester ist stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Berufsverbandes für Krankenpflege e.V. (DBfK) in Eschborn bei Frankfurt. In ihm sind 35.000 der geschätzt 300.000 bundesweit beruflich Pflegenden organisiert. Gegen Trinkgeld im Krankenhaus ist Christine Spirk ganz entschieden. Und überhaupt gehöre es nicht zum Berufsbild, Dankbarkeit zu erwarten, sondern das sei allenfalls „eine erfreuliche Zugabe“.
Damit hangelt sie über den schmalen Grat, der die lebhafte aktuelle Diskussion in der Krankenpflege kennzeichnet: Während die einen mehr Professionalität bei der Dienstleistung Pflege fordern und damit auch die Abkehr von Selbstaufopferung und Selbstausbeutung, warnen andere schon wieder vor zuviel Distanz, Instrumentalisierung und Lieblosigkeit.
In einer Broschüre gibt DBfK- Mitbegründerin Ruth Elster einen Rückblick auf die Geschichte der Krankenpflege, die seit dem 17. Jahrhundert nur langsam von Ordensschwestern auf weltliche Gemeinschaften überging. Entsagung und Aufopferung prägten das Berufsbild. Und: „Krankenpflege als bezahlten, weltlichen Beruf auszuüben galt um die Jahrhundertwende noch als Entweihung der Aufgabe.“ Agnes Karll, die „deutsche Florence Nightingale“, sammelte als erste die mit steigendem Bedarf zahlreicher gewordenen Privatpflegerinnen ohne Mutterhaus, Elisabeth Storp forderte staatliche Ausbildung und Anstellung. Auf der Generalversammlung des Deutschen Allgemeinen Frauenvereins 1902 in Wiesbaden setzten sich Karll, Storp und zwei Kolleginnen für eine Verweltlichung des „natürlichsten“ aller Frauenberufe und eine Verbesserung der katastrophalen Zustände in den Hospitalen ein.
37 Schwestern trafen sich im Januar 1903 in Berlin zur Gründung der ersten Berufsorganisation (BO), des späteren Agnes-Karll- Verbandes (AKV). Die Frauen setzten in den folgenden Jahren eine einjährige Ausbildung durch. Karll schrieb aufmunternd: „Will die Frau, die Schwester, nicht wie bisher Amboß sein, muß sie eiligst anfangen, Hammer zu werden. [...] Wer soll denn unseren Beruf aufbauen, wenn wir es nicht selbst tun!“ 1933 wurde das Vermögen der BO von der „Reichsfachschaft deutscher Schwestern“ übernommen, die Zwangsauflösung kam 1938. Nach 1945 entstanden neue Landesverbände und die Deutsche Schwesterngemeinschaft (DSG). Sie kümmerten sich um die Interessen der vereinzelten, arbeitslosen und schlechtbezahlten freien Schwestern. Ein- und Austritte einzelner Gruppierungen nach kontroverser Diskussion führten immer wieder zu internen Krisen, bis 1973 der neue Dachverband entstand.
Christine Spirk findet, daß in den letzten Jahren das Selbstbewußtsein beim Pflegepersonal gestiegen ist, das sich nicht am Arzt messe, sondern die Eigenständigkeit der Aufgaben entdecke. Burnout-Syndrom und Berufsverdrossenheit hätten abgenommen, die Professionalisierung sei gestiegen. Vor negativen Folgen für den Berufsstand durch die neue Pflegeversicherung fürchtet sie sich vorerst nicht: „Mißtrauen gäbe es bei allem Neuen.“
125.000 der inzwischen gestellten 500.000 Anträge sind begutachtet. Eine Krankenkassenstudie stellt fest, daß 80 Prozent der AntragstellerInnen Geld wollen, 20 Prozent Sachleistungen. Spirk glaubt nicht, daß Alte und Kranke so zur schlechtversorgten Geldquelle werden: „Viele Angehörige machen das gerne. Gerade die Älteren sind auch noch so erzogen worden.“ Liebe und Verantwortung allein sage aber noch nichts „über die Qualität der Pflege aus“. Es reiche eben nicht, wenn, egal ob zu Hause oder in einer Institution, nach dem Motto „Satt und sauber“ gepflegt werde. Die Patienten sind, hat sie festgestellt, mündiger geworden und „kennen die Leistung, die sie erwarten“. Die Patientenzufriedenheit „als subjektiver Faktor“ werde, so Spirk, eine größere Rolle spielen. Selbstständig Pflegende müssen sich an ihren Kunden orientieren, der Patient könne auch „als Lehrmeister“ fungieren.
Daß Patienten auch Arbeitgeber sein können, hält sie für eine gute Idee. So haben die „Grauen Panther“ vorgeschlagen, daß sich Pflegebedürftige zusammentun und professionelle Kräfte engagieren. Prävention und Rehabilitation bekämen bei guter Hauspflege mehr Gewicht als bisher: „Wir müssen sehen, was die Menschen allein können und was sie auch wiedererlernen können.“ Pflege habe, so der Grundsatz des DBfK, als Maßstab „nicht von den Kranken auszugehen, sondern von den Gesunden“. Spirk: „Das finde ich am wichtigsten.“
Das Krankenpflegegesetz müsse endlich als Bundesrecht verabschiedet werden, drängt Spirk, und darin müsse auch die Tätigkeit der Pflegenden festgeschrieben werden. Nur die genaue Definition von Leistung, die dafür nötige Ausbildung und gerechte Bezahlung könnten Grauzonen in der Hauspflege, die nur neue Kosten verursachen, verhindern.
Wenn Medizinische Dienste nach dem neuen Gesetz die Pflegebedürftigkeit von Menschen prüfen und in eine von drei Kategorien einordnen, sind Pflegekräfte als GutachterInnen beteiligt, die ja auch später die Arbeit tun und überprüfen müssen. Sie fühlen sich dabei durch den Gesetzestext jedoch noch immer zu sehr an die Weisungen des Arztes gebunden. Einfließen müsse die Kompetenz der Angehörigen, die Verfassung des Kranken zu beurteilen, ehe Pflegepläne erstellt und Hilfsmittel vorgeschlagen werden können.
Solche Gutachterei ist für einen Berufsstand, der sich auf der Seite der Hilfsbedürftigen sieht, zwar aufwertend, aber dennoch zweischneidig. Der durch die Reform verordnete Wettbewerb führe, fürchten KritikerInnen, zu einer „weiteren Entsolidarisierung“ der Gesellschaft in einem ihrer sensibelsten Bereiche. Bisher habe manchmal in ökonomisch interessanten Pflegebereichen tatsächlich Überversorgung geherrscht, jetzt könne es zu Unterversorgung für wirtschaftlich nicht rentable Patienten, zum Beispiel für chronisch kranke, alte, zudem nur grundversicherte Menschen, kommen. Wettbewerb, sagen die Befürworter dagegen, sichere die Qualität der Pflege von selbst. Der DBfK warnt vor einer interessenorientierten Diskussion, bei der einerseits von „Pflegeschwemme“ die Rede ist, andererseits mit „fehlenden 200.000 Pflegekräften jongliert“ werde.
Im November 1994 ist die Ethikkommission des DBfK gegründet worden. Vorher, so Spirk, gab es in der Diskussion um Pflegeberufe „Ethik satt, aber kein Gremium für offene Fragen“. Ethikkommissionen hatten bisher nur die Ärztekammern. Sie entscheiden vor allem über Arzneimittelprüfungen oder neue chirurgische Methoden und tagen meist hinter verschlossenen Türen.
Die Ethikkommission des DBfK ist für zwei Jahre berufen, soll „in Praxis und Forschung“ arbeiten und hat konkrete Aufgaben: die Berufsordnung nach ethischen Kriterien prüfen, an der gesellschaftlichen Wirklichkeit messen, vor Ort das komplizierte Beziehungsgeflecht der Pflege untersuchen, sich mit der sensationsheischend diskutierten Sterbehilfe auseinandersetzen und die eigene Arbeit reflektieren. Gesundheit sei, sagt Spirk, kein „Erfolgserlebnis um jeden Preis“, bei dem der Patient keine Chance mehr habe, zu sagen: „Ich will nicht mehr.“
Sie erinnert an das Schlagwort „Pflegenotstand“ Ende der 80er Jahre, als auch von PolitikerInnen ernsthaft diskutiert wurde, in Altenpflegeheimen neben Putz- auch Waschkolonnen einzusetzen. Das fand sie „menschenverachtend“. Damals erstritten die Pflegekräfte mit Demonstrationen und Streiks eine Änderung ihres Tarifvertrages. Pflege soll, setzt Spirk gegen falsche Professionalisierung, kranke und alte Menschen aktivieren, ihre Bedürfnisse einbeziehen, „ganzheitlich sein“. Manche haben eben keinen Hunger, wenn Essen auf dem Programm steht, manche sind nachts wach und wollen am Tag schlafen, wenn der Pflegedienst auf Waschen eingestellt ist. Manche Unordnung dürfe nicht an den Sauberkeitskriterien der Pflegenden gemessen werden. Reglementieren durch Uhrzeiten, Aufräumkommandos, unerbetenes Duzen, Eintreten, ohne anzuklopfen, gehören auf die Negativliste. Aber nicht nur die Pflegenden, auch die Hilfsbedürftigen können in Versuchung geraten, das komplizierte Abhängigkeitsverhältnis in wechselseitigen Psychoterror ausarten zu lassen.
Anfang dieses Jahres erschien das Positionspapier „Gesundheitswesen 2000“, in dem festgeschrieben wird, daß Gesundheit alle angeht und nicht nur einzelne, spezialisierte Berufsgruppen, weil Phänomene wie Arbeitslosigkeit, Gewalt, Umweltbelastungen als Ursachen von Krankheit nur „ressortübergreifend“ zu bekämpfen sind. Das aber hieße, bei allen Entscheidungen, analog zu Frauenbeauftragten, auch GesundheitspolitikerInnen zu Rate zu ziehen.
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