Gigant im Dornröschenschlaf

Wo einst Kriegsbomber rangierten, tuckern heute Modelleisenbahnen, und TheatergründerInnen rangeln um andere Räume im monströsen Gebäude des Flughafens Tempelhof  ■ Von Maichel Dutta

Zur Jahrhundertwende donnerten blankgewichste Stiefelpaare im Gleichschritt über das spätere Flughafengelände. Damals befand sich in Tempelhof ein kaiserlicher Exerzierplatz mit rund 15 Kasernen, der dem Volkspark Hasenheide angegliedert war.

Der Zentralflughafen Tempelhof heute: Kolkraben, Krähen und Meisen picken morgens ihr Frühstück aus dem taugetränkten Rasen, wenn sich pünktlich wie an jedem Werktag die erste Maschine erhebt. Graue Alltagswolken verschlingen die Turboprop-Maschine in Richtung Hamburg schon nach wenigen Höhenmetern.

Tempelhof ist einer von drei Berliner Flughäfen. Hier fliegen die wochentags in Berlin tätigen Geschäftsleute aus Hannover oder Paderborn ein und verlassen die Stadt wie die Zugvögel am Freitag wieder in Richtung Heimat. Zwischen heutiger ziviler Nutzung und Entstehung des Flughafens liegen Jahrzehnte deutscher Geschichte, die gern mit dem Mantel des Vergessens umhüllt werden.

Der Bau des Flughafens geht auf den Stadtrat Leonhard Adler zurück. Für das zu bebauende Areal in Tempelhof standen zwei Vorschläge zur Auswahl: Messegelände oder Flughafen. Adler, der 1933 als zum Katholizismus konvertierter Sohn österreichischer Juden vor den Naizs nach Mailand flüchtete, entschied sich für den Flughafen. Am 8. Oktober 1923 nahm der Zentralflughafen Tempelhof seinen Betrieb auf.

Ein größenwahnsinnig autarkes Projekt

Während des Zweiten Weltkrieges wurde zwischen der Schöneberger Kolonnenbrücke und dem Bahngelände ein riesiger Betonklotz errichtet, der nach den „Germania“- Plänen von Hitlers Architekt Albert Speer als Fundament eines kolossalen Triumphbogens dienen sollte: 170 Meter breit, 119 Meter lang und 117 Meter hoch. Am anderen Ende einer sieben Kilometer langen Allee entlang der Nord- Süd-Achse war am Spreebogen ein gigantischer Kuppelbau für 180.000 Menschen gedacht, mit einem Aufmarschplatz davor.

Aus „Germania“ wurde glücklicherweise nichts, realisiert haben die Nazis ein Zeugnis ihres Größenwahns indessen mit dem Umbau des Zentralflughafens: Die 1.300 Meter breiten Hallen sind 1936–39 nach den Plänen des Architekten Ernst Sagebiel errichtet worden. Die über dem Eingang liegende „Ehrenhalle“ mißt bei einer Höhe von 17 Metern etwa 10 Meter Breite und 84 Meter Länge. Sie sollte mit den Büsten der „Helden des Tausendjährigen Reiches“ geschmückt werden, eine Art „Walhalla der Neuzeit“.

Wieweit die Kriegspläne beim Bau des Zentralflughafens fortgeschritten waren, zeigt die weitgehende Autarkie des Komplexes: Der Flughafen verfügt über ein 1938 erbautes eigenes Wasserwerk. Auch bei der Stromversorgung ist der Komplex unabhängig – er produziert seinen eigenen Strom, und quasi als „Abfallprodukt“ betreibt der Flughafen sein eigenes Heizkraftwerk.

Papier und Kohle liegen noch heute in einigen Bereichen der unwirklichen Katakomben des steinernen Riesen bereit, sie dienten der im Krieg errichteten Entgasungsanlage. Nichts, aber auch wirklich nichts wurde hier verändert. Die Amerikaner hatten kein Interesse daran – die jetzigen Betreiber ebensowenig.

Echtes Schaudern stellt sich im sogenannten „Filmbunker“ ein, nachdem man kilometerlange Kellergewölbe durchstreift und rostige Eisentreppen heruntergestiegen ist: Hier befand sich das rund um die Uhr bewachte „Sanktuarium“ der Nazis. Sämtliche Geheimnisse wurden zwischen den 40 Zentimeter dicken Stahltüren behütet. Als die Russen im Zweiten Weltkrieg den Flughafen eroberten, sprengten sie die Tresortüren des Bunkers; dabei fingen die Zelluloidfilme Feuer, und alles ging in Flammen auf. Die einzigen Besucher, die diese Unterwelt in den letzten Jahrzehnten zu Gesicht bekamen, waren Gäste der alliierten Amerikaner – sie verewigten sich an den rußgeschwärzten Wänden des „Filmbunkers“.

Der Flughafen verfügt über einen direkten Anschluß an das Schienennetz. Flugzeug- und Maschinenteile wurden hier im Zweiten Weltkrieg in einem unterirdischen, bombensicheren Bahntunnel zusammengebaut. Kriegsbomber wie die FW-190-Jäger rollten mit nur zwei Zentimenter Platz rechts und links aus dem „Hades“ des Zentralflughafens, einer Unterwelt, die aus etwa zehn Kilometer Gängen und Tunneln besteht.

Heute treffen sich hier die Freunde der Modelleisenbahn. Spur H0 ist ihre Breite, und sie sind sehr stolz auf ihre riesige Anlage sowie die modellgetreuen Nachbildungen von 1938 im Maßstab 1:87. „Wenn ich einen Zug auf die Reise gehen lasse, kann das gut ein paar Stunden dauern, bis ich den wiedersehe“, sagt ein begeisterter Lokomotivführer ohne Dienstmütze und Trillerpfeife.

In die Flugsteighalle des Zentralflughafens könnten problemlos die größten Flugzeuge der Welt wie die Boeing 747 hineinrollen, die Passagiere würden überdacht aussteigen. Aber außer dem Lärmschutz und den Umweltauflagen ist die Lande-und-Hauptstart-Bahn mit 2.116 Metern auch zu kurz und daher den Turboprop-Maschinen vorbehalten.

Bevor der Flughafen nach der Wiedervereinigung in deutsche Hand zurückgegeben wurde, lag er als „Tempelhof Air Base“ in amerikanischer Verantwortung. 1.100 Mann Luftwaffenpersonal sowie 700 deutsche und amerikanische Zivilisten hielten den Riesen in Trab. Neben Werkstätten, Büros, Läden und Quartieren gab es einen Kindergarten und mehrere kirchliche Versammlungsräume. Für die körperliche Ertüchtigung war ebenfalls gesorgt: Fitneßräume, eine Bowlingbahn mit angeschlossener Gastronomie und eine Basketballhalle wurden eingerichtet. Heute liegt hier fingerdick der Staub.

Der „Kleiderbügel“, wie Piloten den Flughafenkomplex wegen seiner geschwungenen Form nannten, war auch kulturell nicht im Abseits: Es gab ein amerikanisches Theater, das Boris von Emdé als „Fly & Dream/Goethe Theater“ etablieren wollte. Nach acht Produktionen, Ärger mit SchauspielerInnen und RegisseurInnen sowie Publikumsmangel warf Emdé Anfang Februar das Handtuch.

Genug Raum für Kulturinstitutionen

Nun sind gleich mehrere Parteien an den gut ausgebauten und kostengünstigen Räumlichkeiten interessiert: Margrit Kollo, deren Bruder René sein Domizil im Metropol-Theater aufschlagen wird, meldete ihr Interesse an. Aber die Räume sollen schon langfristig an den Betreiber des „La vie en Rose“ vermietet sein.

Wenn sich die beiden nicht einigen können – gut die Hälfte der 100.000-Quadratmeter-Fläche des Zentralflughafens ist noch zu vermieten. So bietet auch das Dach, auf dem eine Tribüne geplant war, Platz für 80.000 Menschen. Nur für Flugschauen, wie Baumeister Ernst Sagebiel ursprünglich dachte, werden sich heute kaum noch so viele Menschen interessieren.

Inzwischen steht der „Kleiderbügel“ unter Denkmalschutz, weil er „untrennbar mit der Geschichte der zivilen Luftfahrt verbunden ist“, urteilt der Denkmalschützer Wilhelm Fuchs. Auch der 1936 hinzugekommene Gebäudekomplex ist „bauhistorisch von großer Bedeutung“. Erste Überlegungen für die Zeit nach der Nutzung als Flughafen werden angestellt: Läden, Sporthallen, Produktionsstätten und Ausstellungsräume sind denkbar. Wird der monumentale Eisberg dann endlich aus seinem Dornröschenschlaf erwachen?