Philosophie der Fitneß

Sich nicht festlegen lassen – die Formel, unter der heute Identität formiert wird. Unser Verhältnis zum Körper ist daher vom Konzept der „Fitneß“ bestimmt. Ein Versuch  ■ Von Zygmunt Bauman

Während in der Moderne das „Identitätsproblem“ darin bestand, sich eine Identität zu schaffen und sie zu festigen, liegt das „Identitätsproblem“ der Postmoderne in erster Linie darin, Festlegungen zu vermeiden und sich Optionen offenzuhalten. In diesem Sinne war das Schlagwort der Moderne Kreativität – das der Postmoderne ist Recycling. Die größte Sorge um die Identität der Moderne war die ihrer Stabilität; heute ist es das Problem der Ambivalenz zwischen „sich festlegen“ und „sich freihalten“. Die Moderne – eingelassen in Stahl und Beton. Die Postmoderne – verpackt in biologisch abbaubares Plastik.

Identität ist – gleich dem Konstrukt der „Lebensqualität“ – eine moderne Erfindung. Zu behaupten, wie dies häufig geschieht, die Moderne habe zur „Entwurzelung“ der Identität geführt oder sie „freigesetzt“, ist ein Pleonasmus. Denn zu keiner Zeit „wurde“ Identität ein Problem; sie konnte nur als Problem selbst existieren; sie war immer schon ein „Problem“ – sie wurde gleichsam als Problem geboren. Identität war ein Problem und somit bereit, sich als solches zu stellen – gerade aufgrund der Erfahrung ihres freiflottierenden und unbestimmten Charakters, den wir – ex post facto – als „Entwurzelung“ bezeichnen. Nur in dieser „entwurzelten“ oder „freigesetzten“ Form konnte Identität als Ganzes sichtbar werden.

An Identität denken wir, wenn wir nicht sicher sind, wohin wir gehören; das heißt, wenn wir nicht wissen, wo innerhalb einer Vielzahl von Verhaltensmustern und Verhaltensstilen wir uns einordnen sollen; wir wir sicherstellen können, daß unsere Umgebung unsere Einordnung als richtig und angemessen akzeptiert, so daß beide Seiten wissen, wie sie miteinander umgehen sollen.

Identität zeigte sich im Bewußtsein der Moderne von Anfang an als individuelle Aufgabe. Es war am einzelnen, der Unsicherheit zu entkommen. Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal sollten gesellschaftlich produzierte Probleme durch individuelle Anstrengung gelöst und kollektive Übel mit Hilfe privater Heilmittel gelindert werden. Nicht, daß man die einzelnen Subjekte ihrer Eigeninitiative überlassen und ihrem Scharfsinn getraut hätte; ganz im Gegenteil – erst die Forderung nach individueller Verantwortung für den Aufbau eines eigenen Selbst ließ jene Heerscharen an Trainern, Betreuern, Lehrern, Beratern und Führern entstehen, die sich alle im Besitz überlegenen indentitätsstiftenden Wissens wähnen. Die Konzepte von Identitätsstiftung und Kultur (das heißt die Vorstellung von der Inkompetenz des einzelnen und seine daraus resultierende Abhängigkeit von kollektiver Erziehung und deren kompetenten Repräsentanten) ergänzten sich gegenseitig und konnten somit nur gemeinsam „entstehen“. Sowohl Sinn als auch Identität können nur als Projekte existieren und erst die Distanz ermöglicht ihre Existenz. „Distanz“ in der „objektiven“ Sprache der Räumlichkeit bezeichnet jene Erfahrung, von der wir in „subjektiven“ psychologischen Begrifflichkeiten als der Unzufriedenheit mit dem Hier und Jetzt und seiner Abwertung sprechen. „Distanz“ und Unzufriedenheit haben den gleichen Bezugspunkt, und beide gehören sie zu diesem Leben, das als „große Reise“ gelebt wird.

Ihrem Sinn nach, so Christopher Lasch, „bezieht sich Identität sowohl auf Menschen als auch auf Dinge. Beide haben ihr Fundament, ihre Eindeutigkeit und Kontinuität in der modernen Gesellschaft verloren.“ „Einwegprodukte mit sofortigem Verfallsdatum“ haben die Welt der zeitlich überdauernden Objekte ersetzt. „Identitäten werden gewechselt wie Hemden“. Diese neue Situation erschreckt uns, weil wir fürchten, eines Tages all unser Trachten als verlorene Liebesmüh erkennen zu müssen; ihr Reiz wiederum liegt darin, nicht an vergangene Versuche gebunden zu sein, nie wirklich und unwiderruflich zum Scheitern verurteilt zu sein, sondern immer „Optionen offen zu haben“. Diese Spannung läßt ein „Leben als große Reise“ schwer planbar und wenig attraktiv erscheinen. Zumindest werden sich nicht viele für diese Art zu leben entscheiden. Und wenn, dann ohne große Aussicht auf Erfolg.

Im „Spiel des Lebens“ postmoderner Konsumenten ändern sich die Spielregeln noch während des Spiels. Deshalb ist es vernünftig, die einzelnen Durchgänge kurz zu halten – bei guter Spielführung werden aus dem großen allumfassenden Spiel mit seinen beträchtlichen Einsätzen eine Reihe kleinerer Spiele, deren Einsätze begrenzt sind. Die „Entschlossenheit, nur im Heute zu leben“ und „das Leben als eine Abfolge alltäglicher Katastrophen zu sehen“, werden zu den Leitprinzipien allen rationalen Handelns.

Das Spiel kurz zu halten bedeutet, keine langfristigen Verpflichtungen einzugehen. Sich zu weigern, auf die eine oder andere Art „festgelegt“ zu werden. Sich nicht niederzulassen, wie angenehm der jeweilige Aufenthalt auch sein mag. Sein Leben nicht nur einem Ziel zu widmen. Nichts und niemandem Beständigkeit und Loyalität zu schwören. Die Zukunft nicht zu kontrollieren, sondern sich zu weigern, sie sich zu verbauen: Sorge dafür zu tragen, daß die Auswirkungen des Spiels das Spiel nicht überdauern, und für den Fall, daß sie es doch tun, die Verantwortung dafür abzulehnen. Der Vergangenheit nicht zu gestatten, auf die Gegenwart einzuwirken. Kurzum, die Gegenwart an beiden Enden zu beschneiden und sie von der Geschichte abzutrennen.

Es gibt kein „Vorwärts“ und „Rückwärts“ mehr, die Fähigkeit, nicht stillzustehen, ist das, was zählt. Fitneß – die Fähigkeit, sich schnell und behende dorthin zu bewegen, wo etwas los ist und jede sich bietende Möglichkeit für neue Erfahrungen zu ergreifen – hat Vorrang vor Gesundheit – der Vorstellung, daß es so etwas wie Normalität gibt, die man stabil und unversehrt hält. Jede Art der Verzögerung und des Aufschubs, also auch „Aufschub von Gratifikation“, verliert ihre Bedeutung.

Die Schwierigkeit liegt also nicht mehr darin, eine Identität zu konstruieren, sondern zu verhindern, daß sie einen einengt, daß sie gleichsam am Körper festklebt. Dreh- und Angelpunkt postmoderner Lebensführung ist nicht der Aufbau einer eigenen Identität, sondern das Vermeiden des Festgelegt- Werdens.

Im Gegensatz zur Ära der „klassischen Moderne“ mit ihren „Ordnungsanstalten“ in Form panoptisch angelegter Drillanstalten wie Fabriken oder Kasernen geschieht die Reproduktion der Grundlagen sozialen Lebens heute nicht mehr über Kollektivmittel der Gesellschaft; sie ist zu einem großen Teil privatisiert – dem Zugriff staatlicher Politik entzogen. Allerdings meint „Privatisierung“ hier nicht nur den Abzug der Verantwortung von den Zentren staatlicher Gewalt, wodurch Integration und Reproduktion der Gesellschaft dem freien Spiel privater Initiative überlassen werden – Privatisierung geht über diesen Kontext hinaus. Gesellschaftliche Prozesse sind nun im großen und ganzen entinstitutionalisiert; an der Basis und beim einzelnen wird begonnen, „Do it yourself“ in Sachen Aufbau des eigenen Selbst. Die Furcht vor Unsicherheit packt ihre Opfer heute mit unverstellter Heftigkeit; sie wird nicht mehr relativiert durch die Herrschaft von Sachzwängen. Ihr enormer Druck überfällt den einzelnen im wahrsten Sinne des Wortes „unvermittelt“ und muß durch individuelles Handeln abgewehrt oder neutralisiert werden.

Die Angst vor Unbestimmtheit versetzt den einzelnen geradezu in einen Taumel von Selbstfindungs- und Selbstversicherungsbemühungen. Scheitern wir im nie enden wollenden Kampf, unser eigenes Selbst aufzubauen, oder bleibt ein etwaiger Sieg ohne Folgen, so erleben wir dies schmerzlich als „Unvermögen“. Dieses – und nicht mehr das Abweichen von äußeren Normen – wird nun zur meistgefürchteten Strafe für individuelles Versagen. Heute geht es nicht mehr um altmodische „Unangepaßtheit“ – verstanden als die Abweichung von klaren und stabilen sozialen Normen, die einen gängelten oder schikanierten –, vielmehr haben wir es mit einer neuen postmodernen Form der „Unangepaßtheit“ zu tun, im Sinne eines Scheiterns daran, dem eigenen Leben die gewünschte Form zu geben (wie auch immer diese Form aussehen mag); mit dem Unvermögen, unterwegs halt zu machen, aber auch zu bleiben; mit dem Unvermögen, flexibel und bereit zu sein, verschiedene Gestalten nach Belieben anzunehmen; mit dem Unvermögen, formbare Masse und talentierter Bildhauer zugleich zu sein.

Meißel, Spachtel und anderes Modellierwerkzeug werden von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt (genauer gesagt, sie sind käuflich zu erwerben), zusammen mit den entsprechenden Anleitungen und Modellen. Die Verantwortung jedoch für Leitung und Finanzierung des Bildhauerunternehmens lastet nun doppelt auf den Schultern des Künstlers und auf seinem Material. Ähnlich wie in Kafkas „Prozeß“, in dem ein ausdruckslos-höfliches Gericht keine Vorladungen verschickt und es dem Angeklagten selbst überlassen bleibt, die Anklage zu formulieren, die Anhörung zu leiten und ein Urteil zu verhängen. Aufseher, Vorarbeiter, Lehrer – sie alle verschwinden und mit ihnen ihre Macht, Zwang zu verhängen und von Verantwortung freizusprechen. Heute müssen wir uns selbst beaufsichtigen, erforschen und unterweisen; um Maurice Blanchots Worte umzukehren – jeder ist heute frei, aber jeder ist frei im eigenen Gefängnis; in dem Gefängnis, das sich jeder und jede selbst errichtet.

Nicht mehr das Streben nach Normerfüllung und Konformität macht also die Anstrengung unseres Lebens aus; vielmehr handelt es sich um eine Art Meta-Anstrengung, die Anstrengung, fit – gut in Form – zu bleiben, um sich anzustrengen. Die Anstrengung, nicht alt und rostig und verbraucht zu werden; an keinem Ort zu lange zu bleiben; sich die Zukunft nicht zu verbauen.

Es existiert eine offensichtliche Wahlverwandtschaft zwischen dem privatisierten Umgang mit Unsicherheiten und der privaten Marktwirtschft. Ist die Furcht vor Unsicherheit erst einmal der Angst vor der Unfähigkeit gewichen, ein eigenes Selbst aufzubauen, kann dem Angebot des Marktes nicht mehr widerstanden werden. Es braucht keine Gewalt und keine Indoktrination, um dieses Angebot aufzugreifen; die Auswahl wird freiwillig getroffen. Der Preis, mit dem Überwachung und Gewalt früher Konformität belohnten, war Befreiung von der Qual der Wahl und den Torturen der Verantwortung. Diese Freiheit fehlt im Sortiment, das unter der Herrschaft des „Selbstaufbaus“ auf dem Markt angeboten wird. Aber die Preise sind verlockend genug, um das düstere Gespenst der Verantwortung zu vertreiben; die Freiheit, nicht an Verantwortlichkeiten zu denken – sich keine Sorgen über mögliche Folgen zu machen; das Leben in Episoden zu unterteilen, die von ihren Konsequenzen nicht überlebt werden und zukünftige Episoden nicht beeinflussen – dies ist die Freiheit, die auf dem Markt feilgeboten wird. Anstelle eines aufoktroyierten, aufgezwungenen Unverantwortlich-Seins des Gefangenen (die als Not und Sklaverei schwer drückt) das Nicht-Verantwortlich-Sein eines Schmetterlings (leicht und unbeschwert; ein Geschenk, das als Freiheit in Empfang genommen wird).

Wie immer im Falle von Wahlverwandtschaften würde es nicht sehr viel nützen zu versuchen, Ursache und Wirkung zu trennen. Ist das gefürchtete Unvermögen die Ursache für das begeisterte Konsumverhalten? Oder liegt es vielmehr an der Expansion des Marktes, daß die alte Angst vor Abweichung der neuen Angst vor Unangemessenheit Platz machte? Für jede der möglichen Antworten lassen sich leicht Argumente finden; im Grunde ist es jedoch unwichtig, da – wie im Fall des Kapitalismus bei Weber – aus dem leichten Umhang schon längst „stählernes Gehäuse“ geworden ist, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Angst vor Unangemessenheit und Rausch des Konsums stacheln sich gegenseitig an, beziehen ihre Energie voneinander und sind darauf bedacht, daß es dem „anderen“ ja gut geht.

Was auch immer dazu geführt haben mag – aus den Subjekten der Moderne, ihren „Ordnungsanstalten“ und ihrer (ohnehin selten gewordenen) Rolle als Warenproduzenten wurden Warenkonsumenten, deren Rolle im Sammeln von Lust – genauer Erregung – besteht. Beide Positionen zeigen zwei verschiedene kollektive und individuelle Wege auf, mit der Angst vor Unsicherheit fertig zu werden, die dieser große „Freisetzungsprozeß“ Moderne in sich birgt. Die beiden Wege verweisen auf zwei unterschiedliche – wiederum kollektive und individuelle – Instanzen als Träger dieser Funktion. Einzig und allein die Angst vor Unsicherheit ist geblieben – auch wenn sie sich nun als Angst vor Unangemessenheit (statt vor Devianz) offenbart.

Bei der Angst vor Abweichung handelt es sich um eine konzentrierte Form der Angst. Es ist relativ einfach, hinter der Vielzahl möglicher Erscheinungsformen einen gemeinsamen Inhalt auszumachen. Horkheimer und Adorno konnten noch treffsicher die „Angst vor der Leere“ – erlebt als die Angst, anders und somit einsam zu sein – als die Kernangst der Moderne benennen. Ganz so einfach ist es im Fall postmoderner Angst vor Unangemessenheit nicht mehr. Zum einen, weil die Welt selbst, in der sie wirksam ist – im Vergleich zur „klassischen“ Welt der Moderne – fragmentarisch ist; zum anderen, weil die Ära der Postmoderne – in starkem Gegensatz zur Linearität und Bruchlosigkeit der Moderne – konturlos und episodisch ist. In solcher Welt und solcher Zeit verweisen Kategorien eher auf „Ähnlichkeiten“ denn auf „zentrale Wesenszüge“ oder gar einen „gemeinsamen Nenner“. Im reichen Sammelbecken postmoderner Ängste ließe sich kaum ein Wesenszug finden, der für jedes vertretene Muster zutreffen würde. „Unangemessenheit“ dient hier als Etikett, um die große Vielzahl an Ängsten zusammenzufassen – wobei jede Angst in eine andere Richtung geht, unterschiedlich erlebt wird und verschiedene Strategien des Umgangs in Gang setzt. Keine dieser Ängste kann kurzerhand als das „Hauptbindeglied“ in der Kette von Ängsten gelten oder gar als Ursache für alle anderen. Anstatt einer postmodernen „Mutter aller Ängste“ nachzujagen, empfiehlt es sich, die Tatsache einer Vielzahl verschiedener Ängste anzuerkennen. Von dieser Voraussetzung soll in den folgenden Betrachtungen ausgegangen werden.

Die angsterzeugende und unauflösbare Ambivalenz, die dem „Projekt Körper“ innewohnt, macht es erforderlich, unsere Körpergrenzen festzulegen und zu erhalten; dies wird zum idealen Nährboden zahlreicher Ängste. Die meisten für den Körper des „Lustsammlers“ erlebbaren Empfindungen sind von äußerer Stimulierung abhängig; die typische Konsumentenhaltung macht es notwendig, daß sich unser Körper dem Potential immer reichhaltigerer Erfahrungen, die diesen äußeren Stimuli innewohnen, soweit als möglich öffnet. Unsere „Kondition“ wird an der Fähigkeit unseres Körpers gemessen, diese Stimuli und Erfahrungen aufzunehmen. Und doch – gerade dieser Austausch mit der äußeren Welt gefährdet die Kontrolle des einzelnen über den Zustand seines Körpers. Der intensive „Grenzverkehr“ – unvermeidbare Voraussetzung der Empfindungssuche – stellt zur gleichen Zeit eine mögliche Bedrohung dar. Allerdings ist diese Bedrohung wiederum Voraussetzung für die Fähigkeit des Körpers, Empfindungen überhaupt aufzunehmen. Unsere „Aufnahmekapazität“ kann zurückgehen, wenn die entsprechenden „Einwanderungskontrollen“ nicht effizient genug sind. Die Aufnahme muß zu jeder Zeit selektiv sein – aber führt nicht jede Selektivität zur Reduzierung möglicher Erregung und wird nicht der Körper so um die Erfahrung zahlreicher neuer, noch ungekannter Erregungen gebracht?

Bestsellerlisten ändern sich, wie alle kurzlebigen Modeerscheinungen, von Woche zu Woche. Nur zwei Sparten von Büchern finden wir auf jeder Liste: Kochbücher und Diätführer. Ich spreche hier nicht von gewöhnlichen Kochbüchern, sondern von Rezeptsammlungen, die immer ausgefallener, exotischer und raffinierter werden. Versprochen werden uns nie gekannte Gaumenfreuden und sinnliche Höhenflüge für Auge und Nase. Gleich daneben, als ständiger Schatten sozusagen, die Diätratgeber und Fastenbücher, Ausdruck vernünftiger Selbstbeherrschung und Selbstkasteiung. Anleitung dazu, den durch die anderen Bücher angerichteten Schaden wieder in Ordnung zu bringen und diese Maßlosigkeit zu bereuen. Die Fähigkeit, durch die Welt wundervoller Genüsse zu streifen, macht die Selbstgeißelung zur Notwendigkeit.

Der moderne Körper fand seinen vollendeten Ausdruck im Stil der Renaissance, die sich an den Prinzipen der Mäßigung und Zurückhaltung, Ruhe und Stabilität orientierte. Dementsprechend definierten die Sozialwissenschaften menschliche Bedürfnisse als das Verlangen, Spannung abzubauen, und Bedürfnisbefriediugung als einen spannungslosen Zustand. Perfektion bedeutete das Ende jeglicher Bewegung, da es keine weitere Verbesserung mehr geben konnte. Im Gegensatz dazu führt uns postmoderne Körperertüchtigung zur Architektur der Gothik, bestehend einzig aus Exzessen und zusammengehalten allein durch das feine Austarieren der Spannungen, die sie zu sprengen drohen. Spannungen wollen wohlüberlegt ausgewählt sein, um ihr berauschendes Potential bis zum letzten auskosten zu können; es gilt in den Genuß der neuesten, „ultimativen“ Erfahrung zu kommen und dabei doch offenzubleiben für die Zukunft und deren „ultimative“ Erfahrung. Der Zustand der Spannungslosigkeit ist ein Alptraum. Die Frage ist nicht, wie Spannungen vermeiden, sondern wie eine durch eine andere, passendere, ersetzen. Der Rausch – ein Genuß – ebenso wie das Wieder-nüchtern-Werden.

Für all das trägt das einzelne Subjekt, der Privateigentümer des Körpers, die Verantwortung. Wahrung der Grenzen und Verwaltung des Territoriums innerhalb dieser Grenzen – darin besteht seine/ihre Verantwortung. Die Schwierigkeit dieser Aufgabe, die durch die ihr innewohnende Ambivalenz noch erhöht wird, läßt „Belagerungsmentalität“ entstehen: Dem Körper, insbesondere aber seiner Kondition droht von allen Seiten Gefahr. Und doch ist sicherer Festungsschutz unmöglich, da Grenzverkehr nicht nur unvermeidlich, sondern auch gewünscht ist: Gerade seine Intensität ist ja Sinn und Zweck der Bemühungen, „fit“ zu bleiben. Wir haben es also mit einem Belagerungszustand zu tun, der niemals aufzuheben ist; eine lebenslängliche Belagerung sozusagen.

Angesichts der Unerreichbarkeit dieses Ideals, „fit“ zu bleiben, und angesichts der Ambivalenz der dazu eingesetzten Mittel und Wege kann es kaum verwundern, daß sich von Zeit zu Zeit – und das in immer dichteren Abständen – die Belagerungsmentalität in kurzen, aber heftigen Eruptionen von „Körperhysterie“ Luft verschafft – einer panischen Sorge um die eigene körperliche Verfassung. Mit jedem Bissen schlucken wir Gift und jede körperliche Aktivität hat krankmachende Nebenwirkungen. Trotzdem ist Nahrungsverweigerung und das Einstellen jeglicher körperlicher Aktivität keine brauchbare Lösung, zumal sie sich nicht mit dem Leben des „Lustsammlers“ vereinbaren läßt. Nur in sporadischen Kampagnen gegen bestimmte Nahrungsmittel oder spezifische Formen körperlicher Ertüchtigung kann dem zunehmden Druck an Mißtrauen und Frustration Luft gemacht werden (oder aber indem man andere Nahrungsmittel zu sich nimmt oder andere Formen körperlicher Aktivität wählt). Solche Kampagnen lassen das tröstliche und zumindest zeitweilig Sicherheit gebende Gefühl enstehen, den „Feind vor den Toren“ zurückgeschlagen zu haben und ihn somit nicht mehr fürchten zu müssen. Da jedoch das in sich widersprüchliche Ideal körperlicher Fitneß niemals erreicht werden kann (ganz zu schweigen von der Unerfüllbarkeit der Unsterblichkeitsphantasien, die sich eigentlich hinter diesem Ideal verbergen), können derartige Kampagnen niemals zu einem endgültigen Ergebnis führen. Ein bestimmtes Nahrungsmittel wird vom Markt verbannt, eine bestimmte Form körperlicher Aktivität verurteilt und gemieden, und doch bleiben die Widersprüche unaufgelöst und das Ziel so unerreicht wie je zuvor.

Somit hält das Verlangen nach neuen, noch erregenderen körperlichen Sensationen an. Das, was bleibt, sind der immer schnellere Kreislauf der Gift/Gegengift-Produktion sowie der wachsende Erfindungsreichtum kommerzieller Hersteller von Gegengiften, deren Schädlichkeit erst noch aufgedeckt werden muß ...

Der moderne Körper des Warenproduzenten und Soldaten unterlag strenger Reglementierung: in Form gebracht durch geschickte Manipulierung von Umweltkräften; in regelmäßige Bewegungsabläufe versetzt – wie an Taylors Fließband – durch eine entsprechend raffinierte Arbeitsplatzgestaltung. Der einzige Beitrag, den zu leisten vom Körper selbst verlangt wurde, war, schnell und mit dem nötigen Kraftaufwand auf äußere Stimuli zu reagieren. Diese Fähigkeit nannte man „Gesundheit“. „Krankheit“ stand demzufolge für mangelnde körperliche Leistungsfähigkeit. Alles, was nötig war, um „Gesundheit“ aufrechtzuerhalten und körperliches Funktionieren zu garantieren, bestand diesem Verständnis zufolge lediglich in der richtigen Ernährung. Diese wiederum mußte in genau der Menge zugeführt werden, die nötig war, die körperliche Leistungsfähigkeit des Arbeiters/Soldaten sicherzustellen. Alles, was darüber lag, galt als Luxus. Wurde mehr als nötig verbraucht, war dies ein Zeichen von Lasterhaftigkeit; umsichtig und moralisch handelte man hingegen, wenn man sparte oder investierte. Im ersten Index für „Mindesteinkommen“, den Seebohm Rowntree zu Beginn unseres Jahrhunderts für britische Arbeiter errechnete, war deren Leib- und Magengetränk Tee – unverzichtbarer Bestandteil sozialer Rituale – nicht enthalten: aus dem damals offensichtlichen Grund, daß es keinen Nährwert hatte. Was die Armen, die „unergiebigen“ Verbraucher angeht, denen der Zutritt zur Postmoderne verwehrt wird, so hat sich an diesem Denken bis heute nichts geändert. Oberhalb der Armutsgrenze allerdings werden körperliche Bedürfnisse heute in einem gänzlich anderen Licht gesehen. Hier geht es um den Körper des Konsumenten und dessen Kondition wird an seiner Fähigkeit gemessen zu konsumieren, was eine Konsumgesellschaft anzubieten hat.

Der postmoderne Körper ist zuallererst ein Empfänger von Erregung, die er aufsaugt und verdaut. Seine Fähigkeit, sich stimulieren zu lassen, macht ihn zum Instrument körperlicher Lust. Eine Fähigkeit, die man als „Fitneß“ bezeichnet; dementsprechend steht der „Zustand mangelnder Fitneß“ für Trägheit, Apathie, Teilnahmslosigkeit, Depression und Nachlässigkeit; für ein reduziertes, „unterdurchschnittliches“ Interesse an neuen Erregungen und Erfahrungen und der damit einhergehenden fehlenden Fähigkeit, auf Stimuli dieser Art zu reagieren. Den Körper fit halten heißt bereit sein, Reize aufzunehmen und sich stimulieren zu lassen. Ein Körper in Höchstform ist ein hochsensibles, fein abgestimmtes Instrument, um Lust jeglicher Art zu empfinden: ob an Sexualität, Essen und Trinken oder an rein körperlicher Ertüchtigung. Es ist nicht so sehr die Leistung des Körpers, die zählt, als vielmehr die während körperlicher Leistung wahrgenommenen Sensationen; diese müssen als stark und zutiefst befriedigend erlebt werden – „Spannung“, „Thrill“ und „Ekstase“ werden verlangt.

Da die Stärke von „Erregung“ weitaus weniger einer genauen Messung und Planung zugänglich ist als „Leistung“, die sich in konkreten Produkten und „objektiven“ Ergebnissen messen läßt, kommt es infolge der Schwerpunktverschiebung zu einer Abwertung des einst so zentralen Konzepts der „Normalität“ (und dementsprechend „Anormalität“). Die moderne Medizin war sehr darum bemüht, Gesundheit und Krankheit klar voneinander zu trennen und machte somit die Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Anormalen zu ihrem zentralen Anliegen. Dieser Unterschied sollte idealiter empirisch überprüfbar, quantifizierbar und genau meßbar sein – dem Messen der Körpertemperatur mit einem Thermometer vergleichbar. Ein schier aussichtsloses Unterfangen im Fall ausschließlich subjektiv wahrgenommener Körpersensationen, die sich nicht in intersubjektiv kommunizierbare Begrifflichkeiten fassen lassen und so einem „objektiven“ Vergleich zugänglich wären. Man ist dazu verdammt, in ewigem Zweifel darüber zu leben, ob die eigenen Empfindungen dem gängigen „Standard entsprechen“ und – was noch schmerzlicher ist – nicht zu wissen, ob sie jene Höhen erreichen, die andere in der Lage sind zu erklimmen. Wie tief das eigene Erleben auch reichen mag, es geht noch tiefer und reicht deshalb nie tief genug; nichts passiert, was nicht noch besser sein könnte. In allem, was wir tun, ist der Anflug eines Verdachts enthalten, das soeben Erlebte könne nur ein schwacher Abglanz dessen gewesen sein, was an „maximaler“ Intensität möglich ist (und auch erlebt werden sollte). Unter diesen Bedingungen ist ein Konzept von „Normalität“ sinnlos. Der Maßstab, an dem wir die Intensität unseres Erlebens messen, verschiebt sich ständig – und wirft auf alles, was wir erleben, den dunklen Schatten des „Nie genug“. Ein negativer Ausschlag auf unserer Erlebnisskala wird sofort gleichgesetzt mit mangelnder Funktionsfähigketi und erzeugt so Rastlosigkeit und permanente Frustrationen.

Jede körperliche Höchstleistung, wie spektakulär und befriedigend sie auch sein mag, wirft somit immer schon den Schatten drohenden Versagens voraus; nicht fit zu sein bedeutet, im Kampf um die in Aussicht gestellte Lust den kürzeren zu ziehen. Im Streben nach dem „wahrhaft leistungsfähigen“ Körper wird man von einer Angst geplagt, die sich nie ganz vertreiben läßt.

Die Fähigkeit des Körpers zu starker Erregung und Ekstase krankt daran, ihr Ideal nie zu erreichen – keine noch so große Pflege und kein noch so hartes Training können die ewig nagende Angst möglichen Versagens aus der Welt schaffen. Kein Heilmittel verspricht dauernden Erfolg. Die Wirkung lang ersehnter Heilmittel erlischt im Moment ihrer ersten Anwendung. Alte Heilmittel werden bald verworfen und müssen ersetzt werden durch neue, verbesserte Versionen, deren Entwicklung in immer schnellerem Tempo voranschreitet. Körperliche Höchstform (Fitneß) ist kein Ziel, das man erreichen kann, und es ist kein Moment in Sicht, in dem sich mit Überzeugung behaupten ließe: Jetzt habe ich's geschafft. Ungeduld wird zur ständigen Begleiterin einer nie enden wollenden Kette von Enttäuschungen.

Der Körper ist nun unbestreitbarer Privatbesitz, und es ist am Besitzer, ihn zu pflegen und zu kultivieren – wie einen Garten; es gibt niemanden, der für wucherndes Unkraut oder fehlende Bewässerung zur Rechenschaft zu ziehen wäre. Er muß die Kontrolle übernehmen, doch im Grunde ist er es, der kontrolliert wird. Der Körper muß sich treiben lassen im Strom der Empfindungen, fähig sich den ungeahnten Wonnen der Erfahrung hinzugeben – und doch muß sein „Besitzer“ (und Trainer), der im „Körperinnern“ sitzt und nur kraft seiner Phantasie aus ihm „heraustreten“ kann, diesen Fluß und diese Selbstaufgabe überwachen, messen und bewerten; er muß ihn Vergleichen unterziehen und Aussagen über seine Beschaffenheit machen ...

André Béjin beschreibt das Problem des Strebens nach orgasmischen Erfahrungen, in dem der allgemein anerkannte „Sinn“ sexueller Leistung gesehen wird, mit folgenden Worten: „Die Hingabe an die Empfindung verlangt, das eigene Handeln ständig einer rationalen Berechnung ,sexueller Zweckdienlichkeit‘ zu unterziehen. Die Befriedigung sexueller Lust soll spontanes Geschehen und zugleich dramaturgische Meisterleistung des Gehirns sein. Verlangt wird die Distanzierung vom eigenen Körper mit Hilfe des Verstands, um so besser mit den spontan auftauchenden körperlichen Empfindungen übereinzustimmen, um den sexuellen Akt beobachten zu können, ohne ihn verlassen zu müssen, um sich von Erregung überwältigen zu lassen und sie zugleich durch die eigene Phantasietätigkeit anzuspornen, sich ,spontan‘ Handlungen hinzugeben, die zuvor programmiert werden müssen.“

Eine wahrlich schizophrene Situation; man muß lernen, sich dem auszusetzen, was jenseits allen Lernens liegt; man muß das Gehirn einsetzen, um sein Körperinneres zu erregen und zu erweitern; der Körper soll trainiert, gedrillt oder auf andere Art und Weise genötigt werden, um ihn „loszulassen“, von jeglicher Kontrolle zu entbinden und ihn in die Lage zu versetzen, ungehindert zu genießen. Der Übergang von gesellschaftlich gesteuerter Überwachung zur Selbstbeobachtung und Selbststeuerung hebt die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Handelndem und Objekt der Handlung, ja sogar zwischen Tun und Erdulden, zwischen Handlungen und ihren Folgen, auf.

Körperliche Fitneß als oberstes Ziel, das es – durch Selbstzwang – zu erreichen gilt, das jedoch niemals erreicht wird, ist für immer an Angst gebunden; diese sucht vergeblich nach immer neuen Entlastungsmöglichkeiten. Meine These ist, daß es sich bei dieser „Privatisierung“ des Körpers um die „Urszene“ postmoderner Ambivalenz handelt. Sie ist eine wesentliche, wenn nicht gar die wichtigste Ursache für das typisch postmoderne „Instant-Altern“ – diese neurotische, beliebige, chaotische, konfuse, zwanghafte Unruhe postmoderner Kultur mit ihrem atemberaubenden Strudel immer neuer Moden und Trends, kurzlebigen Hoffnungen und schrecklichen Ängsten, die von noch schrecklicheren Ängsten abgelöst werden. Der kulturelle Erfindungsreichtum der Postmoderne ist wie ein Bleistift mit einem Radiergummi an der Spitze; was er schreibt, radiert er sofort wieder aus und muß so ohne Unterlaß über ein weißes Blatt Papier wandern, das immer unbeschrieben bleibt.

Diese grundlegende Ambivalenz nimmt vielerlei Gestalt an, die die unterschiedlichsten Namen trägt. Eine der häufigsten Formen, in denen sie sich präsentiert, ist der Gegensatz zwischen Proteophobie und Fixeophobie – der Angst, niemals den Gifpel zu erreichen (und nicht einmal zu wissen, welcher Weg hinaufführt), und der Angst, ihn tatsächlich zu erklimmen (und nun zu wissen, daß es nicht mehr höher geht). Das Ziel körperlicher Fitneß kann den Suchenden für immer in die Irre führen. Es könnte vielleicht aber auch erreicht werden, und wir wissen nicht – wir können nicht wissen und wollen es auch nicht –, welche dieser Möglichkeiten wir mehr fürchten sollen. Einmal auf dem Gifpel, gibt es nichts mehr zu erklimmen – alle Wege führen nur hinab. Wir können nicht aufhören zu hoffen, die ultimative Erregung zu erreichen; aber ihr Erreichen wird das Ende sein – es wäre gleichbedeutend mit dem Tod, dem Sieg des abscheulichen Widersachers, den wir zuvor so entschlossen bekämpft hatten.

Proteophobie und Fixeophobie bedingen sich gegenseitig. Gemeinsam sorgen sie dafür, daß auf dem Weg zur Realisierung des „Projekts Körper“ – einen zu grenzenloser Erregung fähigen Körper hervorzubringen – der Selbstgeißelung keine Grenzen gesetzt sind; daß keine sinnliche Verzückung jemals als ultimativ anerkannt wird, die nicht noch gesteigert werden könnte; daß keine Erregung nicht noch etwas zu wünschen übrigließe; daß unsere Suche, wie lang sie auch schon währt, nie zu einem Ende kommen kann.

Aus dem Englischen von

Petra Holler und Joachim Hohl

Janine Chasseguet-Smirgel: „The Ego-Ideal: A Psychoanalytic Essay on the Malady of the Ideal“, Free Association Books, London 1985

Christopher Lasch: „The Minimal Self – Psychic Survival in Troubled Times“, Pan Books, London 1985

André Béjin: „The Influence of the Sexologists and Sexual Democracy“, in: „Western Sexuality. Practice and Precept in Past and Present Times“, hrsg. v. Philippe Ariès u. André Béjin, Blackwell, Oxford 1985