: Den Hintergrund nicht vergessen
■ betr.: „Im Namen des Volkes: Sit zen bleiben!“, taz vom 16. 3. 1995
Zu Eurem Artikel über den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts ist folgendes hinzuzufügen:
Bei allem akademischen Streit über die Auslegung des Gewaltbegriffes des Paragraphen 240 StGB (Nötigung) und Anwendung des Tatbestandsmerkmals „verwerflich“, darf mensch den Hintergrund der heutigen Fassung dieses Paragraphen nicht vergessen. Bis in das Jahr 1943 lautete der Nötigungsparagraph „Wer einen anderen widerrechtlich durch Gewalt oder durch Bedrohung mit einem Verbrechen oder Vergehen zu einer Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Gefängnis bis zu einem oder mit Geldstrafe bestraft.“ Erst am 29. 5. 1943 lautete er dann: „Wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird wegen Nötigung mit Gefängnis nicht unter 6 Monaten bestraft. Rechtswidrig ist die Tat dann, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Zufügung des angedrohten Übels für den angestrebten Zweck dem gesunden Volksempfinden widerspricht.“
Sinn dieser Änderung war es damals, einen Unterscheidung zwischen straflosem und strafbarem Handeln unmöglich zu machen und es dem Richter zu überlassen, nach NS-Gutdünken zu urteilen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war man sich in der Justiz und unter Gelehrten aber einig, daß diese Formulierung keineswegs „NS- Grundsätze“ enthielte. Es wurde weiterhin der Nötigungsparagraph angewandt, obgleich die „Allgemeine Anweisung der Militärregierung an Richter Nr. 1“ ausdrücklich verbot, die Straferhöhungen der NS-Zeit anzuwenden.
Nach Übergang der Gesetzgebung in deutsche Regie übernahm mensch die Fassung von Mai 1943. Das „gesunde Volksempfinden“ wurde allerdings durch den Ausdruck „verwerflich“ ersetzt. Diese undeutliche Grenzsetzung der Tatbestandsmerkmale erklärt die uneinheitliche Meinung der Strafrechtler über den Paragraphen 240, die einige unterschiedliche Ansichten durchaus begründbar macht. Übrigens blieb auch der Strafrahmen. Zwar gilt die Zuchthausstrafe nicht mehr, wohl aber ein Strafmaß bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bzw. sechs Monate bis fünf Jahre bei besonders schweren Fällen.
Dies läßt sich übrigens alles in dem Buch „Furchtbare Juristen - Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz“ von Ingo Müller als Taschenbuch im Knaur-Verlag nachlesen. Dieses Buch diente mir als Quelle und enthält hierzu weitere Nachweise. Arne H. Cuhls, Göttingen
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