Berliner Tagebuch: Verkohltes Fleisch
■ Berlin vor der Befreiung: 27. März 1945
Foto: J. Chaldej/Voller Ernst
Gott sei Dank! Die zweite Leiche ist gefunden. Als ich mich um zehn Uhr morgens mit Evas Mutter vor dem Onkel- Tom-Friedhof treffe, hat man sie eben eingeliefert. „Besichtigung streng untersagt“, erklärt der Friedhofsbeamte. – „Aber zu Fräulein Reuber dürfen wir doch?“ Er nickt. Ich fasse Evas Mutter unter den Arm. Sie trägt ein paar Blumen in der Hand. Märzbecher, gelb und leuchtend. Wir steigen die Treppe zum Leichenkeller hinunter. Beklommen blicken wir uns um. Fünfzehn Särge stehen dort nebeneinander. „Sie müssen nach dem Namen schauen“, erklärt uns die alte Frau. Richtig, an jeder der schwarzgeteerten Holzkisten hängt ein Zettel. Wie eine Gepäckadresse für Expreßgut. Beim Schein der Kerze bücken wir uns über die Särge, entziffern mühsam: Friedrich von Schrick ... Anna Geber ... und als letztes: Ursula Reuber.
Lange stehen wir vor dem armseligen Kasten. Und selbst dieser Dreck ist nur geliehen, denke ich bitter. Die Märzbecher leuchten wie gelbe Sterne in der Finsternis. Neben dem Sarg, ganz in die Ecke gedrückt, steht eine hölzerne Pritsche. Mit schwarzem Kreppapier bedeckt, wie man es für Verdunkelungen benutzt. „Die zweite Leiche von der Ihnestraße“, sagt die Alte und hebt ihre Kerze ein wenig in die Höhe. Ich werfe einen Blick hinüber. Merkwürdig wenig Konturen zeichnen sich unter der schwarzen Decke ab. Evas Mutter preßt meinen Arm. „Ich muß sie sehen!“ – „Bitte lassen Sie es doch ...“ – Sie reißt sich los, ist mit einem Schritt an der Kopfseite des Schragens. Langsam schlägt sie das Papier zurück, schreit auf und taumelt in meine Arme. Fünf Klumpen verkohltes Fleisch, fünf Klumpen von irgend etwas. Sonst nichts. Im ganzen Raum verbreitet sich ein unerträglicher Geruch. Ruth Andreas-Friedrich
Aus: „Der Schattenmann“, Suhrkamp 1984, Tagebuchaufzeichnungen. Ruth Andreas- Friedrich (1901-1977), Journalistin, Mitglied einer Widerstandsgruppe, die Juden versteckte.
Recherche: Jürgen Karwelat
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