■ Schirm & Chiffre: Postwurfsendungen
Vor kurzem kam ich von einer mehrtägigen Wintersportfreizeit zurück. Erwartungsfroh schaute ich in meinen Briefkasten. Das Ergebnis war niederschmetternd. Kein Brief von niemandem. Aber die Werbe-Wirtschaft hatte mich nicht vergessen. Gerührt sammelte ich die bunten Blätter ein.
Die Kundenzeitschrift meiner Krankenkasse sah wieder sehr frisch aus. Sie offerierte einen Bericht über die „optimierte Mischkost zur Kinderernährung“. Cornflakes mit Apfelwürfeln und Früchtetee dürfen demnach berechtigterweise „Fit- Food“ genannt werden.
Als nächstes stach mir ein Faltblatt ins Auge. „Stellen Sie sich nicht ins Abseits!“ Eine schöne Lebensweisheit. Angeboten werden „die beliebten Nachmittags- und Abendkurse des Förderkreises und der Musikschule“. Zum Beispiel kann man mit einem „Senioren- Englisch-Kurs für Damen und Herren ab 60“ die „Leistungen der Gehirnzellen auch im Alter erhalten“.
Ein eingeschweißtes Konvolut trägt den Aufkleber „Öffnen Sie sofort!“. Ich tue, was ich kann, und halte ein üppig gestaltetes Memorandum über den „Sibirischen Tiger“ in Händen. Unter dem Foto steht: „Tiger finden offensichtlich großes Vergnügen daran, sich im Wasser zu paaren.“. Das leuchtet unmittelbar ein. Weitere Sammelkarten „Faszination Tier & Natur“ sowie einen „tollen Rucksack“ gleichen Namens kann ich mit der beiliegenden Antwortkarte bestellen.
„Probieren Sie!“ steht auf dem nächsten Umschlag. Darin steckt – was für eine Überraschung! – ein Tütchen mit drei würzig aromatisierten Kaugummis. Während ich mit den Proben im Mund versuche, möglichst ansehnliche Blasen zu formen, blättere ich im beigegebenen dentalkundlichen Heftchen. Einigermaßen verblüfft lese ich da, daß ein in der Kaumasse enthaltener Stoff namens „Xylit“ gerade dabei ist, in meiner Mundhöhle „die Entstehung von Anfangskaries zu reduzieren“. Ich bin hellauf begeistert. Zeigt sich hier nicht in beispielhafter Weise die Überlegenheit der alten Kommunikationswege? – Derartiges vermag keine moderne Datenautobahn zu leisten! Ich kann mich nicht erinnern, daß es bisher gelungen wäre, mit einer E-Mail wirksam gegen „Anfangskaries“ vorzugehen. Neue Medien hin oder her – es lebe die Postwurfsendung!
P.S.: Ach ja, zwischen den Reklameblättchen war dann doch noch ein echter Brief. Das Bezirksamt (Abt. Gesundheit und Umweltschutz) bittet mich um eine Zeugenaussage. Gegen meine Nachbarn, die Familie D., ist ein „Ordnungswidrigkeitsverfahren“ eingeleitet worden. Und zwar „wegen lauten Staubsaugens am Dienstag, 28.02.1995“.
P.P.S.: Das nächste Mal wird an dieser Stelle wieder über neue Medien geschrieben. Versprochen ist versprochen. Martin Muser
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