: Extraterritoriales Gebiet Stadion
Die Urteile gegen die Verantwortlichen des Tribüneneinsturzes auf Korsika werden morgen erwartet / Bei der Katastrophe kamen 17 Menschen ums Leben, 2.000 wurden verletzt ■ Aus Bastia Dorothea Hahn
Das Pokal-Halbfinale im Stadion von Furiani sollte der Beginn des Wiederaufstiegs des SC Bastia in Frankreichs höhere Fußballsphären sein. Doch das Spiel gegen Olympique Marseille fand erst gar nicht statt. Wenige Minuten vor Anpfiff stürzte an jenem Abend des 5. Mai 1992 die Nordtribüne mit 10.000 Plätzen ein. 17 Menschen starben, über 2.000 wurden verletzt – manche so schwer, daß sie lebenslänglich im Rollstuhl sitzen müssen oder auf Blindenhunde angewiesen sein werden. Über zweieinhalb Jahre nach der größten Fußballkatastrophe auf Korsika werden morgen die Urteile gegen die Verantwortlichen erwartet.
Zumindest gegen diejenigen, die der Justiz zur Verfügung stehen: der Hauptbelastete in der Affäre, der Präsident des SC Bastia und einflußreiche korsische Clanchef Jean-François Filippi, wurde wenige Tage vor Prozeßbeginn ermordet, und der einstige oberkorsische Provinzpräfekt Henri Hurand verlor nach der Katastrophe zwar seinen Posten, angeklagt wurde er jedoch nie. Vor Gericht mußte er lediglich als Zeuge aussagen.
Drei Wochen lang hatten die Korsen im Januar gespannt die Verhandlungen vor dem Gericht in Bastia verfolgt. Wegen des viel zu kleinen Gerichtssaals war eine Video-Direktübertragung in das Gemeindetheater der Stadt organisiert worden. In Großaufnahme konnten die Korsen dort die Gesichter der zwölf angeklagten Ingenieure und Behördenvertreter verfolgen, die ihrem Prozeß in einer Kabine aus schußsicherem Glas beiwohnten. Die schwerkranken Zeugen kamen über eine eigens konstruierte Rampe in das Gericht. Ihre Aussagen waren voller Dramatik.
Sie handelten von den Verletzungen der Opfer und ihren Angehörigen, von dem Hindernislauf um die Entschädigung, von der Korruption und der ungebrochenen Macht der alten Clanchefs.
Fast jede Familie auf der kleinen Mittelmeerinsel mit 250.000 Einwohnern hat Opfer des Tribüneneinsturzes zu beklagen, und überall löste die unheilige Allianz von Sportfunktionären, Behörden, Ingenieuren und Clanchefs leidenschaftliche Reaktionen aus. Dabei tauchte auch eine zuvor nur selten in der Öffentlichkeit kommentierte Verbindung zwischen Fußball und bewaffnetem korsischem Nationalismus auf: Der ermordete Filippi, konservativer Politiker und Vermieter von Hertz-Autos für die ganze Insel, soll unter dem besonderen Schutz der Nationalistenorganisation „FLNC-Canal historique“ gestanden haben. Diese Abspaltung der in den 60er Jahren gegründeten nationalen Befreiungsbewegung ist heute die gewalttätigste Nationalistengruppe. Ihr harter Kern von knapp zwei Dutzend bewaffneten Kämpfern hält die Insel mit dem Eintreiben der „Revolutionssteuer“ und mit Morden an „Verrätern“ in Atem.
Neben seinem auch im korsischen Parlament vertretenen legalen Arm, der „Cuncolta Naziunalista“, unterhält der FLNC-Canal historique Kontakte zu zahlreichen anderen legalen Organisationen. Unter anderem rekrutiert er seinen Nachwuchs bei den Fans des SC Bastia. Der ermordete Klub-Chef soll den – bezahlten – Schutz des FLNC-Canal historique bereits vor langer Zeit, nach einem bewaffneten Erpressungsversuch, in Anspruch genommen haben.
Am 23. April 1992 war der SC Bastia im Losverfahren zum Ausrichter des Halbfinal-Spiels bestimmt worden. Für den Ausbau des kleinen Stadions in Furiani, einem Vorort am Südrand von Bastia, blieben nur zwölf Tage Zeit. In jenen Tagen wurde – das machte der Prozeß im Januar deutlich – so ziemlich jede Verwaltungs- und Sicherheitsvorschrift mißachtet. Das Rathaus von Furiani erhielt weder einen Abrißantrag für die kleine alte Nordtribüne, noch ging dort ein Antrag auf Aufbau einer provisorischen Tribüne ein. Eine Sicherheitsabnahme der Metallkonstruktion, die erst Stunden vor dem Spiel fertig wurde, blieb ebenfalls aus. Eine nach der Katastrophe vom damaligen Premierminister Pierre Bérégovoy entsandte Untersuchungskommission stellte entsetzt fest, daß das Stadion von Furiani von den örtlichen Behörden wie ein „extraterritoriales Gebiet“ behandelt worden sei. Die Serie von Nachlässigkeiten, der schnelle, unkontrollierte Aufbau und die Materialmängel mußten zwangsläufig zum Einsturz der Tribüne führen, attestierten Experten später. Zum Kollaps kam es um 20.16 Uhr, als das Publikum auf der Nordtribüne lautstark den Spielbeginn forderte.
Nach dreiwöchigen Verhandlungen forderte der Staatsanwalt jeweils zwei Jahre Gefängnis für die beiden hauptverantwortlichen Ingenieure. Einer von ihnen hatte sich vor Gericht reumütig gezeigt, der andere bestreitet seine Verantwortung für den Tribüneneinsturz, weil er lediglich für die Tragfähigkeit des Untergrunds verantwortlich gewesen sei. Für die übrigen Angeklagten verlangte der Staatsanwalt kürzere Bewährungsstrafen.
Inzwischen sind die materiellen Spuren der Katastrophe beseitigt. Auf der Nordseite des längst wieder auf 7.500 Plätze reduzierten Stadions in Furiani klafft ein freier Platz. Eine stabile Dauertribüne ist bis heute nicht entstanden. Wenn sie auf die Katastrophe angesprochen werden, winken die Ordner des SC Bastia ab. „Das ist die Vergangenheit“, sagen sie, weil man es ihnen so gesagt hat.
Von Vergangenheit kann jedoch auch nach dem Ende des Furiani-Prozesses keine Rede sein. Viele Korsen bedauern, daß der Präfekt – der Repräsentant der zentralen französischen Behörden – nicht angeklagt worden ist. „Mit seiner Absetzung hat sich Paris aus der Verantwortung gestohlen“, sagen sie. Daneben bleiben viele andere Fragen offen.
Auch die nach den Einnahmen aus den Eintrittsgeldern jenes Katastrophenspiels. Dank des Verkaufs überteuerter Eintrittskarten kassierte der SC Bastia an jenem 5. Mai 3,2 Millionen Francs (ca. 940.000 Mark). Wenige Tage nach der Katastrophe überreichte Vereinspräsident Filippi den Opfern einen Scheck in Höhe von einer Million Francs. Der Rest des Geldes ist bis heute verschollen. Ebenfalls verschwunden ist der einstige Anwalt des Vereins, François de Casalta. Das Verfahren wegen Betrugs läuft.
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