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■ Holocaust-Zeugnisse bald schon interaktiv - Steven Spielberg macht's möglich

Im Oktober 1994, als die Wogen der Begeisterung über „Schindlers Liste“ sich beruhigten, trat Steven Spielberg mit einem neuen, weltumspannenenden, historisch einmaligen und tausendfach replizierbaren Projekt auf den Plan: Innerhalb von drei Jahren will er auf allen Kontinenten Videos drehen lassen, auf denen Überlebende des Holocaust ihre Geschichte erzählen. Die Idee, so berichtet Spielberg, sei ihm während der Dreharbeiten zu „Schindlers Liste“ gekommen, als er Überlebende in Polen um Beratung bat. „Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit“, erklärte Spielberg auf einer Pressekonferenz, „die Mehrzahl der Überlebenden ist siebzig oder achtzig Jahre alt. Ich habe die Absicht, den Großteil von ihnen zu befragen, bevor es zu spät ist. Aus ihren Erzählungen wird uns die Geschichte von denen überbracht, die sie erlebt haben. Es ist absolut wichtig, ihre Gesichter zu sehen, ihre Stimmen zu hören, um zu verstehen, daß der Holocaust von Menschen erlitten und von Menschen gemacht wurde.“

50.000 von ihnen will er in den nächsten drei Jahren interviewen und 150.000 bis zum Ende des Jahrtausends – von 300.000 bekannten Überlebenden (allein in Los Angeles übrigens 30.000). Jeder bekommt zwei Stunden Zeit und wird von Menschen befragt, die von der lokalen jüdischen Gemeinde oder der Universität rekrutiert werden. Die Interviews finden vorzugsweise zu Hause statt.

Für die erste Etappe plant Spielberg fünf symbolische Sammelplätze für die Dokumentationen: das Museum of Jewish Heritage in New York, das Holocaust Museum in Washington, natürlich das Simon Wiesenthal Center in Los Angeles, die Videoarchive in Yale, die eine nicht unerhebliche Rolle in diesem Zusammenhang spielen, und die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Das Gesammelte wird anschließend in ein Multimedia-Archiv eingespeist, das für verschiedene Altersgruppen und Zugänge, vom Forschungsinteresse bis zur schlichten Neugier, einschließlich einer vereinfachten Form für Kinder, zugänglich sein soll. In Los Angeles wird das Material nach verschiedenen Schlüsselbegriffen indiziert, nach dem System der Library of Congress.

In der Los Angeles Times erklärte ein Mitarbeiter von Spielberg kürzlich, daß in ein paar Jahren ein CD-ROM-System verfügbar sein soll, in dem der Student sich in ein virtuelles Konzentrationslager einklicken oder durch bestimmte Dörfer in Polen vor dem Holocaust streifen kann. „Das Problem mit den schriftlichen Dokumenten“, so June Beallor, „ist, daß es viel zu lange dauert, bis man sich zu ihnen durchgearbeitet hat. Ein elektronisches Archiv gewährt einem unmittelbaren Zugang. Wenn einen ein spezielles Dorf oder eine spezielle Person interessiert, kann man sich direkt lebendige Informationen über sie verschaffen.“ Auch kann man die Gesichter der auf Video festgehaltenen Zeugen streifen und einen von ihnen anklicken, um seine Geschichte zu hören. Ziel aller Anstrengungen ist natürlich das virtuelle dreidimensionale Holocaust-Museum.

Spielberg rechnet zunächst für das erste Jahr mit Kosten von zwölf Millionen Dollar und fünfzig bis sechzig Millionen für die folgenden drei Jahre. Eine von ihm gegründete Stiftung „Survivors of the Shoah – Foundation for Audiovisual History“ wird sich um Spenden bemühen. Neben Spielberg selbst haben sich bereits MCA Universal, Time Warner, die Fernsehanstalt NBC und die Koproduzenten von „Schindlers Liste“ eingeklinkt. Das Projekt hat sich die Welt in sechs Regionen eingeteilt. In jeder gibt es eine Zentrale, von der aus ein Team die Arbeit mit den Ortsansässigen koordiniert: Toronto, Chicago, Sydney, Los Angeles, Berlin, Paris, Brüssel, Frankfurt, Amsterdam, Miami.

Übermorgen beginnt das erste Team mit seiner Arbeit in Paris. Das größte Problem ist natürlich die Rekrutierung der Überlebenden. Dafür hat Spielberg zum Teil auf das qualifizierteste der bereits bestehenden Video-Archive zurückgegriffen, auf die Sammlung des Literaturhistorikers Geoffrey Hartman in Yale. Hartman hat jahrelange Überlegungen darauf verwandt, wie die Interviews so zu führen sind, daß sie den größtmöglichen Teil der Initiative dem Befragten überlassen. So jemand zuckt natürlich zusammen, wenn ihm die Spielbergsche Hemdsärmeligkeit zu Ohren kommt, von dem 2-Stunden-Limit angefangen bis zur Befragung durch „Laien“. Die 7.500 Stunden Material, die in Yale von 3.000 Überlebenden gesammelt und indiziert worden sind, hat er Spielberg zwar zur Verfügung gestellt, aber seine Skepsis gegenüber der Gigantomanie des Projekts bleibt.

„Mit seinem Memorial“, so Jean-Michel Frodon in Le Monde, „verlängert Spielberg den Effekt des Films. Der Rückgriff auf Multimedia paßt nur zu genau in die Strategie des neuen, vom ,wonderboy‘ selbst geschaffenen Majors (Spielbergs Studio Dream Works), sich auf dem Markt breitzumachen. Diese naive Art und Weise, sich alles anzueignen, alles zu sammeln, alles aufzuheben, selbst das Unsagbare, spiegelt einen alten hegemonialen Impuls Hollywoods wider, der besonders in diesem Zusammenhang regelrecht gefährlich ist... Alles wird standardisiert, vereinheitlicht, plattgemacht.“ Das Pariser Dokumentationscenter „Mémorial du Juif inconnu“ sieht das anders und wird Spielberg bei der Rekrutierung Überlebender helfen. Mariam Niroumand

„Foundation for Audiovisual History“, Büro in Los Angeles: 001-818-777-4673, in Paris nur Fax: 0031-43149951

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