: Tanzende Buchstaben
Von hier aus gingen in den achtziger Jahren die wichtigen Impulse für das Berliner Tanztheater aus: Die Kreuzberger Tanzfabrik hält alten Kurs auf neuen Wegen. Ein Porträt von ■ Michaela Schlagenwerth
1978 wurde nicht nur an der ersten taz-Ausgabe gebastelt, die dann im April 79 glücklich erscheinen sollte. In der Mauerstadt Berlin gab es bekanntermaßen noch andere Umtriebige. Vor allem in Kreuzberg. So bauten in diesem wichtigsten Bezirk der Stadt auch ein paar Sportstudenten und Tänzer an einer Fabriketage herum, und nachdem man erfolgreich einen Schwingboden aus Preßplatten – der noch so manchen Dorn in zarte Tänzerfüße treiben sollte – installiert hatte, wurde ein Institut für modernen Tanz, für Improvisation und experimentelle Tanzformen eröffnet: die Tanzfabrik, die zuerst (ganz subversiv) nur Kreuzberger Tanzfabrik hieß und in der die Künstler nicht nur arbeiteten, sondern auch gemeinsam wohnten. In Wuppertal revolutionierte längst Pina Bausch die Tanzwelt, in Bremen tat das gleiche mit anderen Mitteln Hans Kresnik – nur in Berlin war moderner Tanz ein Fremdwort. In dieses Brachland importierte die Tanzfabrik neue Tanzstile, vor allem aus den USA: Modern Dance natürlich und bald auch die damals allerneueste Technik: die Contact Improvisation, für die die Tanzfabrik bis heute über die Grenzen Berlins und Deutschlands hinaus bekannt ist.
Man organisierte Weiterbildungen für professionelle Tänzer, gründete eine Laienschule, die schnell expandierte und deren Schüler das erste Publikum für die eigenen Stücke bildete. Aber auch in anderen Kreisen galt ein Besuch der Tanzfabrik als absolutes Muß. Hier hockten die an Avantgarde- Kunst Interessierten vom Hardcore-Autonomen bis zum Professor friedlich vereint auf Klappstühlen oder auf dem Boden und goutierten gemeinsam Jacalyn Carleys wundersame Assoziationen zu Schwitters' „Ursonate“ oder Dieter Heitkamps Kommentare zur Männersozialisation. In der Tanzfabrik wurde experimentiert, und dabei konnte eine Produktion für die Spieler schon mal aufregender sein als für die Zuschauer. Aber das war in Ordnung. Der Ort war von Pioniergeist durchdrungen.
Wie die Tanzlandschaft Berlins heute ohne die Tanzfabrik aussehen würde, läßt sich nicht sagen, sicher wäre der moderne Tanz irgendwann und irgendwie auch auf anderen Wegen in die Stadt gekommen. So aber ist fast die gesamte freie Tanzszene Berlins in irgendeiner Weise mit der Tanzfabrik verquickt. Von Riki von Falen (die lange dabei war) bis zu Joseph Tmim und Sasha Waltz (die beide schnell ihre eigenen Wege gingen): die Tanzfabrik war die erste Station, die von fast allen relevanten freien (West-)Choreographen der Stadt durchlaufen wurde. Inzwischen hat die Tanzfabrik ihre Monopolstellung verloren. Nach 17 Jahren, vielen Krisen und vielen Erfolgen bahnen sich einschneidende Veränderungen an.
Chronisch knapp
Chronischer Geldmangel hat das Projekt seit seiner Geburtsstunde begleitet. Zu Beginn waren es Heizkosten, die man nur dank eines errungenen Preises bezahlen konnte. Inzwischen stellt sich das Problem auf andere Weise: Mit zu wenig Geld zu vielen Choreographen eine Arbeitsmöglichkeit bieten zu wollen war der große Konflikt der letzten Jahre. Oft mußte man zwei Jahre auf die nächste Produktionsmöglichkeit warten, vorher waren andere dran, und man selbst hing solange in der berüchtigten „Warteschleife“. Keine optimale Bedingungen für eine eigene künstlerische Entwicklung. Jacalyn Carley zieht hieraus und auch aus einer ästhetischen Auseinanderentwicklung die Konsequenzen: Die Mitbegründerin, die seit ihren ersten Arbeiten immer wieder die Buchstaben zum Tanzen gebracht hat, verläßt Ende des Jahres die Tanzfabrik. Ihr Repertoire, tänzerische Umsetzungen von Schwitters' und Jandls, Gertrude Steins oder Raymond Federmans Texten, nimmt sie mit. So sie eine entsprechende Förderung vom Kultursenat erhält, will die Choreographin mit vier TänzerInnen ein eigenes Ensemble aufbauen. Eine Idee, die auch in finanzschwachen Zeiten eine Chance auf Realisierung hat: Die vier TänzerInnen sollen den festbezahlten Kern der Kompagnie bilden, zu denen jeweils Gäste mit kürzerem Engagement hinzukommen. Eine Produktionsweise, die Jacalyn Carley auch jetzt schon praktiziert: Für „Ich übertanze euch“, einem kurzen Tanzstück zu der „Dramatischen Sinfonie“ des symbolistischen russischen Schriftstellers Andrej Belyj, hat sie vier Tänzer der Komischen Oper und einen Schauspieler des Deutschen Theaters hinzugewinnen können. Andrej Belyj, heute der Vergessenheit anheimgefallen, hatte mit seinen in den zwanziger Jahren entworfenen Buchstabenkompositionen einigen Einfluß, zum Beispiel auf Gertrude Stein und John Cage. Gleich von mehreren Koproduzenten mitfinanziert, steht „Ich übertanze euch“ mit seiner Organisations- und Finanzierungsform für einen programmatischen Neubeginn, uraufgeführt wird es im September im Rahmen der Berlin–Moskau-Festwochen.
Auch in der Tanzfabrik will man künstlerisch den alten Kurs vertiefen, strukturell aber neue Wege gehen. Vom kollektiven Leitungsmodell, dem zuletzt neben Jacalyn Carley Claudia Feest und Dieter Heitkamp angehörten, nimmt man Abschied. Eine Umstrukturierung im Zug der Zeit, der die Tanzfabrik erst spät erwischt hat. Die künstlerischen Belange werden fortan ganz in die Hände von Claudia Feest gelegt. Dieter Heitkamp, Lehrer für Contact Improvisation seit den Siebzigern und ehemaliger HdK-Student für Malerei, ist mit einer nicht versiegenden Lust am Neuen ausgestattet. Er will sich – ebenso wie Jacalyn Carley – vermehrt auf die künstlerische Arbeit konzentrieren. Neben ihm sollen Helge Musial und Ka Rustler in Zukunft mehr Arbeitsmöglichkeiten erhalten. Ka Rustler, die mit ihrer Hinwendung zum Body-Mind Centering der Tanzfabrik Ende der achtziger Jahre die neueste innovative Technik verpaßte, hat in ihrer ersten Choreographie „Das Auge im Ohr“ versucht, diese Technik auch choreographisch fruchtbar zu machen: Es ging ihr darum, „die Inspiration für den Tanz in den Zellen des Körpers, in den Organen, im Knochenmark, durch die Sinne und in den Körperflüssigkeiten zu finden“. Herausgekommen ist eine vielversprechende Arbeit, ein merkwürdig entrücktes Tanzstück mit einigen Längen, aber mit Momenten von berückender Schönheit.
Ka Rustlers Ansatz deckt sich zweifellos gut mit Dieter Heitkamps Forschungen. Der sieht in den experimentellen Tanztechniken das Herz und die besondere Qualität der Tanzfabrik: „1986/87 waren wir die ersten, die BMC- Lehrer nach Europa geholt haben. Ebenso war es 1979/80 bei der Contact Improvisation. Heute kommen die staatlichen Ballettinstitutionen nicht mehr drum herum, zu sehen, daß es andere Formen und Techniken gibt, die sie auch vermitteln müssen. 1989, bei einem Ausbildungs-Symposium in München, gab es für so etwas wie Contact nur Unverständnis. Vier Jahre später, 1993, als es bei einer anderen Konferenz um die Ausbildungssituation in Deutschland ging, war ich völlig verblüfft: In drei Tagen fiel mindestens 25mal das Wort Contact. Es gibt immer mehr Choreographen, die im tanztheatralischen Bereich arbeiten und Tänzer brauchen, die improvisieren können, und so sehen sich die staatlichen Ausbildungsinstitutionen genötigt, ihre Ausbildung zu verändern. Wir waren immer weit vorneweg, haben aber nie eine entsprechende finanzielle Unterstützung erhalten.“
Bewegungsforschung
In der Zukunft soll das Projekt Tanzfabrik noch stärker zu dem werden, was es auch heute schon ist: ein Institut für Bewegungsforschung, ein Versuchslabor für die neuesten zeitgenössischen Tanzentwicklungen. Pläne gibt es viele, unter dem vorläufigen Titel „Tanzforschung und Stückentwicklung“ soll jungen Choreographen eine Arbeitsmöglichkeit geboten werden. Der Austausch mit anderen Institutionen und Choreographen soll gesucht werden und möglichst in Koproduktionen enden. Was sich realisieren läßt, wird sich allerdings erst zeigen, wenn der Beirat für freie Gruppen über die weitere, drei Jahre währende Options-Förderung und damit über Wohl und Wehe nicht nur von Jacalyn Carley und der Tanzfabrik entschieden hat. Die Konkurrenz ist groß geworden, die Gruppen stehen Schlange, und die künstlerische Qualität in der freien Tanzszene hat stark zugenommen. Während der Kultursenator für Sasses problematisches Schloßpark-Theater- Projekt zwei Millionen lockergemacht hat, werden die Mittel für Optionsförderung nicht für alle Gruppen reichen, die es verdient hätten.
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