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Die Freiheit nehme ich mir

■ Hat weder Lust, lustig zu sein, noch schweren Mutes den alten Zeiten nachzutrauern: Rio Reiser über Johanniskrauttee, das Erbe der Scherben, den "Tatort", in dem er mitspielt (am Sonntag!), über Himmel,...

Rennende Beine, mit bewegter Kamera gefilmt, ein Fingerabdruck, der sich ins Bild kräuselt, ein Auge im Fadenkreuz ... Am kommenden Sonntag, um 20 Uhr 15, wird Rio Reiser erstmals in einer echten bundesdeutschen Institution auftreten: einem „Tatort“ („Im Herzen Eiszeit“, ARD). Auch wenn er nicht den Kommissar spielt – ein langer Weg von Ton Steine Scherben hinein ins Öffentlich- Rechtliche. (Fast) gleichzeitig erscheint bei Sony eine neue CD namens „Himmel und Hölle“. Das Gespräch fand auf Reisers Bauernhof in Fresenhagen nahe der dänischen Grenze statt.

taz: Im letzten Jahr kamst du mit Best-of-Platte und Autobiographie, diesmal mit „Tatort“ und dazugehöriger Platte – „da droht der Ausverkauf“, rufen die Scherben-Fans aus den besetzten Häusern heraus ...

Reiser: Es ergibt sich so. Wenn mir jemand eine gute Rolle anbietet, ich den Plot nicht schlecht finde, warum sollte ich dann nein sagen? Wenn du dann auch noch den Titelsong schreibst, sagt die Plattenfirma, wir können nicht bloß eine Single rausbringen, da muß eine LP dazu, da sage ich sowieso nie nein, weil einfach so viel Material da ist und auch die Lust an der Arbeit. Der Ausverkauf würde anders aussehen.

Wie denn?

Ganz blöde: Scherben-Reunion, das wäre der Ausverkauf. Ich war oft hart an der Grenze zum Ausverkauf, aber das lasse ich nicht mehr mit mir machen. Nicht weil ich kein Geld mehr brauche, sondern weil ich einfach keine Lust mehr habe.

Du singst „Ich will Gefahr von A bis Z“ – deswegen der „Tatort“?

[lacht] Meinst du, die Dreharbeiten waren so gefährlich? Da habe ich bei Videos schlimmere Sachen erlebt, daß ich z.B. beinahe vom Zug überfahren worden wäre und dergleichen mehr. Nee, nur in der Rolle lebe ich gefährlich.

In „Im Herzen Eiszeit“ spielst du einen Ex-Knacki, der zu Unrecht inhaftiert war und nun unter Verdacht steht, sich an den eigentlich Schuldigen gerächt zu haben.

Ich spiele eine Lichtgestalt. Der saß elf Jahre, weil er seine Fresse gehalten hat. Mit dem Mord hatte er nichts zu tun, es war eben nur eine Schnapsidee, den Mooshammer zu überfallen. Das könnte mir auch einfallen. [lacht]

Deine neue Platte klingt ganz schön düster.

Sie ist in der Tat weniger lustig. Ich hatte einfach keine Lust, eine lustige Platte zu machen. Die meisten halten mich immer völlig zu Unrecht für eine Art Hofnarr. Dabei müßte ich lügen, wenn ich sagen würde, daß ich keine Depressionen hätte. Nicht permanent, aber ich komme eben nicht drumrum; ich bin im Moment eher wackelig. Außerdem leben wir ja nun mal momentan nicht tralala in den lustigsten Zeiten, da kann man nur versuchen, diese Stimmung aufzunehmen. Das war ja bei den Scherben schon genauso.

Die einzelnen Songtitel lassen Scherben-Traktate wieder aufleben: „Streik“, „Straße“, „Gefahr“, „Träume“, „Schlacht“ ...

Wenn man mal ein Wort gefunden hat, ist es doch gut. Das waren zunächst Arbeitstitel, und dann ist mir einfach nichts Besseres eingefallen. Das hat nichts damit zu tun, ob es mit den Scherben korrespondiert oder nicht. Es hat mich diesmal einen Scheiß interessiert, was ich für ein Image habe. Zwei Vorgaben hatte ich: Erstens sollte die Platte gut werden, und zweitens sollte das Ganze Spaß machen. Und Spaß heißt ja nicht zwangsläufig auch lustig. Es kann auch Spaß machen, Aggressionen loszuwerden, sich auszutoben.

Himmel und Hölle, beides auf einmal?

Wir leben doch zwischen Himmel und Hölle. Das ist eine reine Standortbestimmung, mit dem Tod oder dem „Danach“ hat das nichts zu tun. Was kann uns denn auch noch Schlimmeres passieren, in welche Hölle sollten wir denn nach dem Tod noch geraten?

Und wo bleibt der Himmel?

Die schönen Seiten des Lebens, der Hedonismus, das KaDeWe, die Lebensmittelabteilung. Nein, im Ernst, vielleicht ist ja der Himmel die Abwesenheit der Hölle.

Mir tut der Mensch, der da singt, leid.

Das kannste dir sparen, so schlimm ist es nicht. [lacht] Na gut, das ist die Frage, wo bleibt der Himmel, wo bleibt die gute Laune. Aber es ist ja nun auch kein finsterer Grunge. Ich singe düstere Inhalte ja mit einem Lächeln. Es gibt ja – wenn auch nur in geringem Maße – den Ausblick auf ein Happy-End.

Die Platte endet mit dem Satz „und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute“. Ist mit dem „wir“ die „Bewegung“ gemeint?

Das kannste so deuten, aber auch anders. Ich habe es nun mal gerne vieldeutig, solange es nicht nach hinten losgeht.

Kommt die Revolution noch?

Vielleicht nicht so, wie wir es uns vor 20 Jahren vorgestellt haben, aber in irgendeiner Form muß sie ja kommen. Uns bleibt ja gar nichts anderes übrig, es muß eine Umwälzung stattfinden. Sonst geht der ganze Planet flöten, und das Schlimme ist, daß wir das noch erleben werden. Das ist ja das Allerärgerlichste, sonst könnte man ja – wenn man ganz übel drauf wäre – sagen, das erleben nur unsere Enkel, scheiß auf die Enkel. Die Chancen stehen nicht besonders gut, aber es gibt noch eine winzige Hoffnung, zumindest das Allerschlimmste zu verhindern, und diese Chance sollte man nutzen.

Analyse statt Aktionismus – hast du resigniert?

Ich kann einfach bestimmte Sachen nicht mehr machen. Die Phase, in der ich wie zu Scherbens Zeiten einfach drauflos machen konnte und wollte, ist momentan vorbei. Wir wollten damals aufrütteln, wachmachen – und was rauchen. Auch das ist vorbei, meine momentane „Droge“ ist Johanniskrauttee. Das bringt's, das ist ein leichtes Halluzinogen. [lacht] Trotzdem finde ich es toll, wenn andere Leute weiterhin solche Dinge initiieren. Um so besser, wenn Musik stattfindet unabhängig von der Plattenindustrie, von Großveranstaltungen, von Medien. Und da findet eine ganze Menge statt, wir lesen nur nichts darüber, eben weil es abseits der Medien stattfindet.

Ein Beispiel dafür wäre das Aufkeimen einer neuen Pop- und Rockgeneration in Deutschland.

Viele von denen sagen, daß die Scherben oder Rio Reiser für sie wichtig waren, das freut mich, aber es würde mich auch freuen, wenn sie es nicht sagen würden, weil mir einfach die Musik gefällt. Es gibt kaum Musik, die ich in letzter Zeit so gerne und so oft gehört habe wie z.B. Blumfeld, Nationalgalerie oder Selig. Meine „etablierten Kollegen“ wissen, glaube ich, gar nicht, daß es eine Band wie Blumfeld gibt. [Oh Rio, sprich mal mit Heinz Rudolf Kunze; d. Red.] Ich glaube, daß ich eher in einem Austausch mit diesen Bands stehe, als etwa ein Westernhagen. Gegebenenfalls möge er mich da eines Besseren belehren und sagen, daß er den ganzen Tag nur Blumfeld hört, bitte schön, das muß er ja am besten wissen! [lacht]

Bist du im Moment in einer Phase, in der du verstärkt über das nachdenkst, was war und was auf dieser Grundlage noch werden kann? Nicht zuletzt die Arbeit an deiner Autobiographie vor einem Jahr zwang dich ja dazu ...

Was gewesen ist, ist vorbei, ein Großteil ist für mich abgeschlossen. Meine Vergangenheit interessiert mich im Moment nicht so besonders. Mich interessiert die Gegenwart und nicht so sehr meine Zukunft, sondern unsere gemeinsame Zukunft.

Also landet man zwangsläufig wieder beim Ansatz der Scherben.

Natürlich, klar. Ich habe auch gar nichts dagegen, aus diesem Fundus zu schöpfen. Aber ich lasse einfach gerne alles auf mich zukommen. Eigentlich sollte die Platte auch schon Ende Januar erscheinen, weil der „Tatort“ ebenfalls für dann angesetzt war. Also haben alle Action gemacht, aber ich bin ganz cool geblieben, denn ich weiß, nichts läuft wie geplant, und prompt wurde der „Tatort“ um vier Monate verschoben. Sollen die anderen doch planen. Wenn ich mich diesem Diktat unterwerfe, dann mache ich vielleicht den Hampelmann, bin nach außen hin lustig, laufe durch Talkshows und bin sehr charmant und eloquent, wie es von mir verlangt werden würde. Aber wenn mir jemand ein Mikrofon hinhält und sagt, Rio, du hast ja eine neue Platte gemacht, sage ich weiterhin am liebsten einfach nur ja. Die Freiheit nehme ich mir, hahaha. Sonst kann ich nicht mehr existieren.

Das Gespräch führte

Benjamin von Stuckrad-Barre

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