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Start ins Pflegechaos

Die Pflegeversicherung kommt – doch wer wieviel Geld erhält, ist oft noch ungeklärt  ■ Aus Hannover Jürgen Voges

„Unseren Patienten müssen wir dann eben Rechnungen auf den Tisch legen“, sagt Gerhard Ridderbusch, der in Niedersachsen für das Diakonische Werk die Verhandlungen mit den Pflegekassen geführt hat. Die Verhandlungen über die Vergütung eines „Pflegeeinsatzes“ sind auch in Niedersachsen vorerst gescheitert. Deswegen haben sich alle professionellen Anbieter ambulanter häuslicher Pflege, vom Arbeitgeberverband der privaten Dienste über die Arbeiterwohlfahrt bis hin zur Caritas, in Hannover „mit einem letzten Appell zur Schadensbegrenzung“ an die Öffentlichkeit gewandt.

Der Appell wird wenig fruchten. Auch in Niedersachsen droht das Finanzchaos, wenn vom 1.April an erstmals Leistungen durch die Pflegeversicherung übernommen werden. Auf einem Teil der Pflegekosten werden die Schwerstpflegebedürftigen, die die professionellen Dienste zumeist versorgen, womöglich selbst hängen blieben. Denn von zunächst privat bezahlten Rechnungen erstatten die Pflegekassen grundsätzlich nur 80 Prozent.

Das Problem: In vielen Fällen ist noch nicht geklärt, wer überhaupt welche Leistungen aus der Pflegeversicherung bekommt. Über die Einstufung in die verschiedenen Pflegestufen entscheidet auf Antrag der medizinische Dienst der Krankenkassen. Die Begutachtung durch die medizinischen Dienste ist allerdings noch längst nicht abgeschlossen. Wie überall im Bundesgebiet haben auch in Niedersachsen die Krankenkassen erst rund 40 Prozent von 75.000 Anträgen bearbeiten können. „Die Zahl der Anträge hat uns überrollt“, so sagt es Margot Lucke, die in Stadthagen bei Hannover über die Einstufungen zu entscheiden hat, und sie spricht von ungerechtfertigten Hoffnungen, die die Bundesregierung mit der Pflegeversicherung geweckt hat.

Etwa 30 Prozent aller Anträge auf Leistungen aus der Pflegeversicherung haben die medizinischen Dienste in Niedersachsen bisher abgelehnt, und die Quote wird noch steigen, weil man Anträge schwerstpflegebedürftiger alter oder behinderter Menschen bisher oft bevorzugt bearbeitet hat.

Die Einstufung nach dem Pflegeversicherungsgesetz erfolgt nach medizinischen Kriterien. Es geht bei der Begutachtung darum, welche Verrichtungen des täglichen Lebens – vom Waschen, über die Darm- und Blasenentleerung bis zum Essen – der Patient ohne fremde Hilfe nicht mehr bewältigen kann. Die reine Betreuung alter Menschen, reden oder mal spazierengehen, honoriert die Pflegeversicherung nicht. „Wenn da jemand 35mal dasselbe fragt, wenn er nachts aufsteht und durchs Haus geht, dann ist das sicher schwer für die Familie“, sagt Margot Lucke, „aber einen Anspruch an die Pflegeversicherung begründet es nicht.“

Für viele ist das Pflegeversicherungsgesetz ein Fortschritt, vor allem für die, die Familienangehörige selbst versorgen. Aber einige Pflegebedürftige würden jetzt auch Nachteile erleiden, heißt es im niedersächischen Sozialministerium. Neunzig Prozent aller Anträge bei den medizinischen Diensten beziehen sich auf jene Geldleistungen, die pflegende Verwandte, Freunde oder Nachbarn erhalten. Hier soll an die Stelle des bisherigen einheitlichen Pflegegeldes der Krankenkassen von 400 Mark jetzt ein je nach Stufe gestaffeltes Pflegegeld zwischen 400 und 1.300 Mark treten.

Nachteile haben vor allem diejenigen zu befürchten, die schon bisher nicht von ihren Familien, sondern von privaten Diensten oder etwa in Niedersachsen von den Sozialstationen des Landes betreut wurden. Aus der Pflegeversicherung völlig heraus fallen jene alten Menschen, die bisher nur einmal am Tag eine Stunde Besuch von der Schwester der Sozialstation bekamen. Wer nicht mindestens 90 Minuten Pflege braucht, und dies nach den strengen medizinischen Kriterien, hat keinen Anspruch auf Leistungen. Wenn er arm ist, kann er sich allerdings an das Sozialamt wenden.

Darüberhinaus sind mit guten Grund nicht nur in Niedersachsen die Haushaltsmittel gestrichen worden, die die Länder – in Niedersachsen bisher über die Sozialstationen – für die Pflege zur Verfügung gestellt hatten. Das Pflegeversicherungsgesetz sieht nämlich vor, daß Zuschüsse Dritter von den Leistungen der Versicherung abgezogen werden. Letztlich aus diesem Umstand resultiert auch der Streit zwischen den Pflegediensten und den Pflegekassen über die Höhe der Vergütung einer Pflegestunde. Die Sozialstationen etwa hatten früher von den Krankenkassen 30 Mark pro Pflegestunde erhalten, den Rest ihrer Kosten von bis zu 80 Mark für eine examinierte Krankenschwester hatten sie größtenteils über die Zuschüsse abgedeckt. Die Pflegeversicherungen hatten jetzt eine Erhöhung der Vergütungssätze auf 36 Mark angeboten. Als die Pflegedienste zuletzt 42 Mark plus 6,50 Mark Wegegeld forderten, brachen die Versicherungen die Verhandlungen ab.

Perfekt wird das Chaos durch die Sozialämter. Bei etwa der Hälfte der Patienten in der ambulanten Pflege sprang bisher das Sozialamt ein. Die Sozialämter aber haben zum 1. April alle entsprechenden Leistungsbescheide aufgehoben; sie müssen jedoch für eine Übergangszeit weiterzahlen. Doch dafür sind eben neue Anträge fällig.

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