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„Geburtstag“ auf der Insel

Heute kommen die deutschen Urlauber familienförmig und mit Rad auf Hollands größte Insel, Texel. In den vierziger Jahren vergnügten sich hier deutsche Landser „am liebsten ohne Badehose“ im Meer. Ein Rückblick  ■ von Johannes Winter

Eine Ansichtskarte mit Hintersinn: Im Vordergrund, auf brauner Erde, liegt ein Ei, gleich dahinter ist die Landschaft zerfurcht von tiefen Löchern und Gräben, darin ducken sich dicke, braunrote Hühner, vor dem Horizont picken sie in bunten Scharen zwischen grasenden Schafen, auf grüner Wiese. Ein Haus mit rotem Dach und ein flacher Hügel schließen das geruhsame Ensemble gegen einen graublauen Himmel ab.

Die zerklüfteten Mulden im Vordergrund und der grüne Hügel mit seinen grauen Betonquadern im Hintergrund erinnern an Zeiten einer militärischen Invasion, über die Gras wächst.

Ob heutzutage an Ostern der Narzissen oder im Sommer der warmen Brise wegen zu Gast auf Texel, vor allem Urlauber im Rentenalter hätten einiges über damals zu erzählen. Falls sie der Generation der uniformierten deutschen Dauercamper der frühen vierziger Jahre angehören.

Im Buchladen von Den Burg, der Inselhauptstadt, fanden wir zwischen Postkarten und Kochbüchern eine Schrift, die Hinweise gibt auf einige hundert ungebetene Sommerfrischler im Landserlook.

„Sondermeldung Texel“ heißt das Buch und berichtet, eindrucksvoll illustriert, vorneweg von Schwimmwettkämpfen, „am liebsten ohne Badehose“, und vom Wasserskilaufen anno 1942. Fotografisch belebt saust da einer, in Badehose, auf dem „Propellerstück eines abgeschossenen Flugzeuges“ hinter flatternder Hakenkreuzfahne über die Wellen.

Solche Vergnügungen gingen fast fünf Jahre lang gut, obwohl die nudistischen Wassersportler Besatzer waren. Zwischen 1940 und 1945 hielt die Hitlersche Wehrmacht Holland und damit auch Texel besetzt.

Seit Frieden herrscht, fällt der gemeine deutsche Tourist in immer größeren Massen vor allem aus dem benachbarten Nordrhein- Westfalen familienförmig auf Texel ein. Er fährt im Rudel Fahrrad mit roten Backen im Frühling oder mit rotem Rücken im Sommer, nutzt den riesigen Strand als Promenade oder Liegewiese. Er gibt sich der Beobachtung der Vogelwelt hin, welche von den Einheimischen mittels einschlägiger Broschüren als „Paradies“ angepriesen wird. Er ist willkommen.

Jene vierziger Jahre, als Texels Außenküste, gen England gerichtet, deutscherseits zum sogenannten Atlantikwall mit fünfhundert Bunkern zubetoniert und mit Tausenden von Minen bestückt wurde, zu verschweigen fällt einigen Insulanern auch jetzt nicht ein.

Näheres entnehmen wir der Schrift aus dem Buchladen, die im Haupttitel „Aufstand der Georgier“ heißt.

Auf und unter dem grasigen Hügel unserer Ansichtskarte, neben dem rotbedachten Haus, hat zwischen dem 5. und 6. April eine „Nacht der langen Messer“ im Wortsinn stattgefunden, wie sie bizarrer und brutaler kurz vor Kriegsende nicht sein konnte.

Unter Angehörigen der gleichen Armee brach ein Gemetzel aus, das erst Wochen nach dem offiziellen Friedensschluß gestoppt werden konnte, Ende Mai 1945: Achthundert Soldaten eines georgischen Infanterie-Bataillons rebellierten gegen ihre Waffenbrüder, rund zweitausend deutsche Landser.

Maria de Graaf, die in der Nähe des Inseldorfes De Koog zu Hause ist, leitet die Freundschaftsgesellschaft „Texel Georgiä Kontakt“. Seit Beginn der achtziger Jahre organisiert sie Reisen in die georgische Hauptstadt Tbilissi. Sie hat sich einem Polittourismus mit historischen Wurzeln verschrieben.

Die liegen mitten im Zweiten Weltkrieg, als sich die Wehrmacht, Osteuropa erobernd, Tausende von sowjetischen Kriegsgefangenen, Angehörige der Roten Armee, einverleibte und in die sogenannten Ostlegionen einzog.

Eine Massendesertion hatte damals eingesetzt, nicht nur des Hungers wegen. Im Antistalinismus vereint, wechselten vor allem Angehörige der vom Sowjetstaat unterworfenen Völker der Kaukasusregion die Seite. Aus „Untermenschen“ wurden „Hilfswillige“, später Waffenbrüder.

Mit „Hitler als Befreier“, so ein zeitgenössisches Plakat, erhofften sich die Kollaborateure eine Wende im Kampf um ihre verlorene nationale Unabhängigkeit. Ihr Unterdrücker Stalin wurde zum Hauptfeind, für ihn wurden sie zu Vaterlandsverrätern.

Unter ihnen gab es mehrere hundert Georgier. Anfang Januar 1945 wurden sie zur Verstärkung der Deutschen nach Texel verlegt und bewegten sich hier mal in Landser-, mal in ihrer Landesuniform oder wurden, nach Schanzarbeiten, mit deutschen Kriegsorden behängt.

Ihr Aufstand brach in jener Nacht unter dem Postkartenhügel neben dem rotbedachten Haus mit der Aufschrift „Texla“ los. Die Soldaten aus Georgien wechselten erneut die Seite. Sie taten sich mit dem holländischen Widerstand zusammen. Sie wollten damit ihrer Verlegung an einen anderen Frontabschnitt und der drohenden Auslieferung an Stalin entgehen.

Hier, in Texla, vor den Toren von Den Burg – dem heutigen Ärztehaus – lag nämlich das militärische Hauptquartier der deutschen Besatzer. In jener Nacht vor fünfzig Jahren begann georgischerseits ein lautloses Töten mit Dolch und Bajonett, das bis zum Morgengrauen anhielt und mehrere hundert Landser das Leben kostete.

Dag der Geboorte, denj rozdjenije (Geburtstag) – so lautet die Tarnbezeichnung der Nacht der Revolte in den Sprachen der Beteiligten. Am Ende, nach sechs Wochen Guerilla und Exekutionen, Razzien und Bombardierungen waren rund 1.600 Menschen zu Tode gekommen: 117 Texelaner und 572 Georgier, außerdem etwa 800 deutsche und 100 alliierte Soldaten – in der letzten Schlacht des Zweiten Weltkriegs.

Einheimische und Alliierte sind auf dem Hauptfriedhof von Den Burg begraben, die georgischen Verbündeten im Kampf gegen die deutschen Besatzer auf dem Sowjetfriedhof „Loladse“, genannt nach dem Führer des Aufstands, auf dem Hohen Berg nahe Den Burg. Einer, wohl der einzige, der die Jahre der ersten deutschen Invasion zwischen 1940 und 1945 vom ersten Tag an mitgemacht hat, lebt noch heute auf Texel und bleibt wortkarg, wenn die Rede auf den Georgier-Aufstand kommt.

Heinz Hlawatschek hat die Insel im Mai 1940 in seiner Eigenschaft als Proviant- und Quartiermeister der Wehrmacht betreten und nie mehr verlassen. Wie alle, die zwischen den Fronten lavierten, weiß er viel, kennt Massaker-Verantwortliche ebenso wie Kollaborateure und Verräter – und schweigt, weil ihm sein Rentnerleben mit der einheimischen Ehefrau samt Kindern wichtiger ist.

Das „Hotel Lindeboom“ mitten in Den Burg hat er damals, als darin die Schreibstube der Besatzer untergebracht war, ebenso frequentiert wie das deutsche Lazarett, das heute Jugendherberge ist. Im Hotel „Californiä“, das unter gleichem Namen in De Koog weitergeführt wird, hatten die Georgier während ihrer vier Monate auf Texel ihr Hauptquartier. Nicht weit davon liegt, versteckt in den Dünen, eine Attraktion für heutige Urlauber, vor allem für ihre Kinder. Der Ort galt schon damals als Vergnügungsstätte. „Ecomare“ ist jetzt ein Dorado für Vogel- und Naturschützer, wo täglich zur Zeit der Robbenfütterung der Fahrradparkplatz überfüllt ist. Einst verlustierten sich hier die Landser in ihrem Casino.

Eine Fahrradtour mit Start am „Lindeboom“ und Ziel „Ecomare“ läßt uns spüren, wie friedlich es auf Texel zugeht, zur Osterzeit geradezu malerisch.

Krokusse und Tulpen sind verblüht, Narzissen und Hyazinthen prangen, zwischen den Blumenfeldern liegen grelle Haufen abgeschnittener Blüten, denn nur die Blumenzwiebeln werden exportiert.

Das schmackhafte Texelschaf – sein Fleisch gilt Gourmets als présalé, weil mit meersalzgewürztem Gras gemästet – grast und blökt mit seinem Nachwuchs überall auf grüner Weide. Die grünen Zaunwälle aus Erde und Gras glänzen. Die keilförmig gegen Südwest gebauten Schafställe – Wahrzeichen Texels – musealisieren vor sich hin. Dazwischen waten und staksen rotschnäbelige Austernfischer sowie Mantel-, Lach- und Heringsmöwen, nicht zu vergessen Baßtölpel, Sandregenpfeifer, Löffler und Hänflinge. Insgesamt 306 Arten zählt die einheimische Vogelwelt auf der Insel.

Der Weg führt uns durch Gerritsland in den Wald hinter den Dünen, „De Dennen“, ein an Bunkern reiches Gebiet mit Camping- und Grillplätzen, Wander-, Fahrrad-, Reit- und wenigen Autowegen.

An der Küste hat das Meer mit den Resten des teutonischen Größenwahns aufgeräumt, die Nachkriegsjahre mit ihren teils tödlichen Minenexplosionen fast vergessen lassen. Einsam, sauber und behaglich – so erleben wir die Insel beim Radeln. Um anschließend zu schlemmen, in der Strandkneipe „Pavillon 9“ beim „Juttertje“, dem Texeler Kräuterschnaps, im „Pakhuus“ von Oudeschild bei einer Fischplatte oder im „Lindeboom“ bei Dünenkaninchen oder Lammschenkel.

Mit der Gemarkung „De Krim“ macht die Inselkarte einmal mehr neugierig auf Spuren der jüngeren Geschichte.

Am Ortsausgang von De Koog passieren wir eine Tankstelle. Ihr Besitzer hat sie verziert mit einem Beutestück. Er lockt die Touristen mit einem rotbemalten Torpedo, den das Meer irgendwann an den Strand warf.

Nordwärts entlang der Landstraße stoßen wir neben dem Inselflugplatz auf einen mächtigen Kriegsrest, ein Bunkergebäude. Es ist parolenverziert und schafumstanden, mitten auf grüner Wiese, die Telefonzentrale der Besatzer.

Zwischen Deichen und Dünen, Prielen und Poldern weht ein manchmal auch laues Lüftchen, zeichnet grelles Sonnenlicht harte Kanten nach, formt Landschaften für Postkarten.

Was hier vor fünfzig Jahren geschah, ist kaum mehr zu erahnen.

Nach der Rebellion der Georgier nahmen die Deutschen blutige Rache. Exzessiv. Maria de Graaf von der Freundschaftsgesellschaft meint, die Alliierten hätten Texel bei Kriegsende einfach vergessen. Erst am 20. Mai landeten kanadische Fallschirmjäger und beendeten das wechselseitige Abschlachten. Bis dahin war die Wehrmacht mit Flammenwerfern, Maschinengewehren und Bomben gegen wirkliche oder vermeintliche Partisanenverstecke vorgegangen, hatte Bauernhöfe niedergebrannt, die Bewohner als Saboteure erschossen, nachdem diese ihr eigenes Grab hatten schaufeln müssen. Dagegen führten Georgier und Einheimische einen verzweifelten Widerstandskampf.

Im Strandräuber-Museum von Oudeschild an der Wattseite der Insel wird ein Film vorgeführt, der das „Drama von Texel“ aus sowjetfreundlicher Sicht zeigt.

Auch der Freundschaftsgesellschaft leuchtet inzwischen ein, daß die kommunistische Heldenpose der georgischen Kämpfer darin schwer erträglich ist. An einer neuen Fassung wird gearbeitet, heißt es. Auf Spurensuche im äußersten Norden der Insel stoßen wir endlich auf „De Krim“; es ist ein Campingplatz ohne erkennbaren Bezug zur Geschichte.

Nicht weit davon erhebt sich ein anderes Wahrzeichen von Texel, der Leuchtturm. Hier fand das letzte Gefecht zwischen den einstigen Verbündeten statt. Spurlos, kein Weiterkommen. Stacheldraht schützt ein Naturschutzgebiet.

Am Abend schiebt der Pensionswirt ein Stück Aufklärung nach. Auch die großen runden Blumenkübel in manchem Vorgarten, sagt er, haben eine militärische Vorgeschichte. Sie dienten den Besatzern als Einmannbunker.

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