: Ein Mythos hinter Jalousien
In Kreuzberg, dem Bezirk, der immer noch von seinem Ruf lebt, werden immer häufiger einfache, kleine Geschäftsleute überfallen / Sicherheitsanlagen schützen zwar, schotten aber auch ab ■ Von Barbara Bollwahn
Peter Humar verkauft eigentlich Lacke, Farben und Tapeten. Doch in den letzten Wochen mußte er seinen Platz im Laden immer öfter mit der Straße tauschen, um die Scherben der Fensterscheiben zusammenzukehren. Silvester wurde zum ersten Mal die große Schaufensterscheibe seines Ladens in der Skalitzer Straße eingeschmissen. Vier Wochen später ging auch die neue zu Bruch. Kaum war diese zum zweiten Mal erneuert worden, traf es einen Tag später die kleine Scheibe. „Es ist extrem schlimm“, klagt er. Fünfzehn Jahre lang ist nichts passiert und jetzt diese massive Sachbeschädigung. Geklaut wurde außer einem Schraubenzieher und einer Zange nichts. „Wenn das so weitergeht, werde ich wie in der Apotheke durch ein kleines Fenster hindurch verkaufen“, sagt Humar.
Auch einem Papierladen in der Nähe, der seit 25 Jahren existiert, wurden im November, Dezember und Januar hintereinander die drei Schaufenster und Schaukästen eingeschlagen. Der Betreiber findet wie andere Betroffene keine Antwort auf die Frage „Wer steckt dahinter?“ Als die Schaukästen eingeworfen wurden, fanden sie einen Zettel, der um einen Stein gewickelt war, auf dem stand „Es geht noch weiter“. Ob das Titanic-Reisebüro, der Blumenladen, der türkische Schuhladen oder der türkische Videoverleih – „im letzten Jahr war fast jedes Geschäft betroffen“, so der Betreiber, der weder den Namen noch die Straße seines Geschäftes in der Zeitung lesen will.
Rainer Sauter vom Verein SO 36 hat mit betroffenen Geschäftsleuten in der Skalitzer, Wrangel, Oppelner und Falckensteinstraße gesprochen und eine Liste der Zerstörungen aufgestellt. Allein in der Wrangelstraße hat es nach seinen Recherchen in über zwanzig Geschäften Sachbeschädigungen und Einbruchsversuche gegeben. Sauter geht von „gezielten Anschlägen“ aus. Im Unterschied zu Angriffsobjekten von „Klasse gegen Klasse“ handelt es sich um ganz normale Läden, die seit Jahren im Kiez sind. Sauter will nun herausfinden, ob es eine „Klimaverschiebung“ im multikulturellen Kreuzberg gibt, ob ein Zusammenhang besteht zwischen den Anschlägen und dem „Überlebenskampf“ aufgrund gestiegener Mieten, gesunkener Einkommen und zunehmender Arbeitslosigkeit. Von den knapp 160.000 Kreuzberger Einwohnern sind 17.000 arbeitslos und genauso viele leben von Sozialhilfe.
Stecken hinter den Anschlägen ausländische Jugendliche, die, statt sich mit ihrer „strukturellen Benachteiligung“ auseinanderzusetzen, ihrem „Haß auf Deutsche“ durch Vandalismus freien Lauf lassen? Wenn dem so wäre, würde Sauter in dieser „Opfermentalität“ eine „fatale Entwicklung“ sehen. Die Stimmung im Kiez sei jedenfalls hin. „Wir wollen keine Bürgerwehr, aber daß sich die Bürger wehren“, so Sauter. Um keine „vorschnellen Analysen“ und „gesellschaftlichen Interpretationen“ zu treffen, will er einen Runden Tisch organisieren, an dem sich Geschäftsleute, Polizei und der Bezirksbürgermeister zusammensetzen und sich den Problemen stellen.
Noch immer warten die Betreiber des Tapeten- und Papiergeschäftes auf eine Antwort von Bezirksbürgermeister Peter Strieder (SPD), der versprach, über eine finanzielle Beteiligung an den 10.000 Mark teuren Rolladen nachzudenken. Da es sich bei der Sachbeschädigung und den versuchten Einbrüchen nicht um Vandalismusschäden à la 1. Mai handele und die Läden keine Neuansiedlungen seien, sieht sich Strieder mit einem „völlig absurden Problem“ konfrontiert. „Wir müssen einen Weg finden, wie das im Rahmen von Wirtschaftsförderung subventioniert werden kann.“
Der Bezirksbürgermeister will sich einem gewissen Zusammenhang zwischen zunehmender Kriminalität und „ernstzunehmenden Ängsten in einer Umbruchsituation“ zwar nicht verschließen. Auch weiß er sehr gut, daß gerade in seinem Bezirk ein „weiterer Griff in die Taschen der Bürger schwer ist“. Aber so dramatisch habe sich der Bezirk nun auch wieder nicht verändert, wiegelt er ab. „Kreuzberg ist und bleibt ein Mythos“, und vieles sei schlicht und einfach Stimmungsmache. Das sieht Reiner Sauter ganz anders. Er will die Sachbeschädigungen, die „normal, aber nicht öffentlich“ zu sein scheinen, zum Thema machen. Denn er befürchtet ein „Kaputtgehen der Offenheit“ in Kreuzberg, wenn es immer „beton- und festungsmäßiger“ wird.
„Wieso soll ich meine Zeit bei einem Runden Tisch vergeuden?“ schimpft Peter Humar vom Tapetenladen. Er bezweifelt dessen Erfolg. Auch nütze es ihm recht wenig, wenn „der liebe Herr Bürgermeister“ vorbeischaut und sein Bedauern zum Ausdruck bringt. Statt dessen solle der Senat die Jugendlichen von der Straße holen. Einerseits nerven ihn zwar die „Ghettokids, die hier aufgewachsen sind und wissen, was sie sich erlauben können und das ausnutzen“, andererseits seien die Kinder „nicht immer alleine Schuld“.
Für den türkischen Betreiber eines Zeitungsladens ist die Sache sonnenklar: „Je mehr Arbeitslose, desto mehr Einbrüche.“ Er ist überzeugt, daß achtzig Prozent der Einbrüche von arbeitslosen Jugendlichen verübt werden, der Rest sei Beschaffungskriminalität. „Ich kenne die Typen, die kommen zum großen Teil aus osteuropäischen Ländern“, sagt er. Er erkenne sie daran, wie sie sich im Laden umschauen. Wenn er sie frage, bekomme er nicht selten Antworten wie „Ja, wir haben wieder drei Läden geknackt und das Geld im Puff verpraßt.“
Bereits viermal sei versucht worden, in seinen Laden einzubrechen. Das Vertrauen in die Polizei hat er längst verloren, Wachschutzfirmen kämen immer erst dann, wenn es zu spät sei, und die Einbrecher würden eh mit jeder Sicherheitsanlage klarkommen. Für ihn gibt es nur eine Lösung: Waffenscheine für Gewerbetreibende. „Um meine Existenz zu wahren, muß ich schießen.“
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