: Lob des Seiltänzers
„Eigenes Leben“ – Ulrich Becks Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben ■ Von Reinhard Kahl
Seiltänzer leben gefährlich. Dauernd sind sie vom Absturz bedroht. Selbst im Moment des Triumphs muß ihnen niemand sagen, daß sie sterblich sind. Am gefährlichsten ist für sie der Zustand maximaler Stabilität. Würden sie den erreichen, fielen sie vom Seil wie eine Kartoffel. Seiltänzer müssen ihre Balancierstange in Unruhe halten. Mit fortwährender Bewegung und Gegenbewegung überlisten sie das Fallgesetz. Nur indem sie ihren Schwerpunkt Schritt für Schritt aus sich heraus nach vorn verlagern, also gehen, sichern sie ihre Ex-istenz. Seiltänzer sind zur Bewegung, ja sogar zur eleganten Bewegung, verurteilt. Die Sicherheit des festen Standpunkts ist für sie tabu. Es wäre ihr Ende. Der Absturzgefahr entkommen sie einzig durch Unsicherheit.
Und noch etwas: Seiltänzer dürfen nicht auf ihre Füße starren. Sie brauchen den Blick zum Horizont, denn der ist, rein physiologisch gesehen, eine Funktion des Gleichgewichtssinns und Bedingung der Aufrichtung.
Ulrich Beck ist der Seiltänzer der deutschen Soziologie. Waren seine essayistischen Untersuchungen über „Die Risikogesellschaft“ und über „Die Erfindung des Politischen“ notwendig global, so begibt er sich zur Suche nach dem „eigenen Leben“ in die Katakomben der Gesellschaft. Dort ist es manchmal so lebensbedrohend heiß wie in der Hölle oder zumindest wie im Fegefeuer. In diesen vulkanischen Regionen muß man sich vorsichtig bewegen, Schritt für Schritt, der Logik balancierender Bewegung folgend. In einem Interview nannte Ulrich Beck unsere Situation kürzlich eine des „Übergangs vom festen in den flüssigen Zustand des Politischen. Dabei sind immer zwei Reaktionen möglich: die Angst vor dem Verlust des Festen und die Politiklust auf die Anarchie der Verflüssigung“.
Beck begibt sich mit Lust in die Labors, in denen verflüssigt wird, in denen aber auch neue Legierungen eingedickt werden. Der Oberscout der deutschen Soziologie wird diesmal sekundiert vom Grenzgänger Ulf Erdmann Ziegler und läßt sich von einem vermeidlichen Nachwort des Philosophen Wilhelm Vossenkuhl sichern. Das Buch ist der Katalog zu einer Ausstellung in der Reihe „Erkundungen“, die nun ausgerechnet eine Aktiengesellschaft ausrichtet: die Bayerische Rückversicherung. Aha, triumphieren die schnellen Entlarver. Moment.
Über das Buch verteilt, zieht sich ein Essay von Ulrich Beck, „Skizzen zu einer biographischen Gesellschaftsanalyse“, der, in 14 Abschnitten, eine Grammatik des EIGENEN LEBENS zu formulieren versucht. Dazwischen setzen Ulf Erdmann Ziegler (Text) und Timm Rautert (Fotos) Schlaglichter auf 70 Biographien. Die Fragmente dieser Lebensläufe, die wir in Momentaufnahmen kennenlernen, ergeben zusammen ein unvergleichliches Kaleidoskop unserer Gesellschaft, das so leicht keine Theorie entwerfen kann. Denn die Erbkrankheit der Theorie ist ja ihr Wunsch, die widerborstige Realität doch noch auf einen Nenner zu bringen. Und das Gebrechen der Theoretiker ist, aus einem Fenster ihres Gebäudes in die unbekannte Welt zu lugen, sich aber nicht heraus zu wagen. Sinn der Theorie ist es also auch, daß Theoretiker nicht naß werden. Beck und Ziegler, begleitet von dem Fotografen Rautert, haben sich nun aufgemacht zu – so der Untertitel – „Ausflügen in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben“.
Daß auch die Autoren oft das Déjà vu vorziehen und sich lieber nicht der allzu fröstelnden Realität aussetzen, wird man bei der Lektüre und auch bei den Fotos zuweilen empfinden. In den Porträts siegt oft der schöne Aphorismus „... sie sind Archäologen des Zufalls geworden ...“ über eine Genauigkeit, die dann allerdings für die Einzelporträts auch mehr Raum gebraucht hätte. Jedenfalls entsteht bei der Lektüre Hunger nach Einzelheiten. Man wünscht sich häufiger die Lupe als das Fernglas. Auch die Fotos dürften weniger gerahmt sein, um mehr von der zuweilen zerknüllten und vielfach gefalteten Realität aufzubewahren. Und natürlich findet der Freund Beckscher Essays hier viele Absätze, die er an anderer Stelle bei ihm schon gelesen hat. Aber das nur am Rande. Der in seiner Höhle sicher sitzende Rezensent hat jedenfalls in diesem Fall nicht das Recht, die Frontliner zu instruieren.
Das Objekt und die These des Buches verbieten die Form der über alle Welt souveränen These, denn wir sind heute allesamt zur Autodidaktik verurteilt. Wir müssen unsere Leben selbst erfinden und das betrifft nicht nur die sogenannten Inhalte, sondern ebenso den Modus dieser Autopoesis.
Das EIGENE LEBEN ist absturzgefährdet, aber es ist auch eine Artistenschule. Es ist kein schmucker Garten, sondern ein Labor, in dem Biographien gebastelt werden. Dort werden aber auch die unterirdischen Mäander einer Gesellschaft gezogen, die auf die Industriegesellschaft mit ihrer brutalen Kanalisierung aller Lebensflüsse folgt, wenn etwas folgt. Denn die Nachmoderne, so schrieb Zygmunt Bauman, Eidvater von Ulrich Beck, wird eine Heimat der Unvollkommenheit sein – oder sie wird nicht sein.
Ulrich Beck entdeckt wieder mal das Selbstverständliche mit seinen so unvermeidlichen wie belebenden Paradoxien. Aber es sage keiner, das Buch sei nur die Entdeckung des Selbstverständlichen. Nichts ist mehr verschüttet als dieses. Nach 100 Generationen Entweder-oder-Denkens des Monotheismus, nach der mühsamen Konditionierung der beweglichen und unzuverlässigen Spezies Mensch zum Homo sedens, zum sitzenden und sedierten Menschen, nach den Versprechungen von Eindeutigkeit, Erlösung und Ewigkeit, steht nun wieder Unsicherheit auf der Tagesordnung.
Wie kaum ein anderer Autor ist Ulrich Beck diesem Umschwung von den risikoreichen, aber eben nur scheinbar sicheren Sicherheitsversprechen unserer Kultur zu einer neuen, befreienden, ja möglicherweise rettenden Unsicherheit auf der Spur. Von den beiden großen säkularisierten Abendlandsreligionen mit ihren Großversuchen „Himmel auf Erden“ ist bisher ja nur die Variante der kommunistisch orthodoxen Ostkirche gescheitert. Die Nagelprobe der westlich konsumistischen Großsekte steht noch aus. Daß es außer der uns geläufigen apokylptischen Stimmung, jenem Schatten, der durchaus in der Lage ist, seine Ereignisse nach sich ziehen, eine Kleinarbeit am Alltagsleben gibt, das jedenfalls ist ermutigend. Wenn die meisten Theorien, Medienprodukte bis hin zu den Small talks Erregung in sich übertrumpfenden Szenarien des Scheiterns suchen, auf den Genuß, recht zu haben, aus sind, so sind inzwischen Beispiele des unvollkommenen Gelingens der bei weitem größere Skandal.
Nicht mehr „Himmel auf Erden“, nicht mehr dumme Kritikerpose „Hölle auf Erden“, sondern endlich „Erde auf Erden“, sterblich, unvollkommen, wunderbar und oft beschissen, das wär's doch: „In der Mitte der Privatheit nistet und brütet das Politische.“ (Beck)
„Eigenes Leben – Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben“. Hrsg.: Ulrich Beck, Wilhelm Vossenkuhl, Ulf Erdmann Ziegler und mit Fotos von Timm Rautert. C. H. Beck, München, 215 S., 48 Mark
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen