: Gott schütze unser deutsches Vaterland
■ Vor fünf Jahren tagte die erste frei gewählte DDR-Volkskammer Die taz auf den Spuren von drei ehemaligen Berliner Abgeordneten
Am 5. April 1990 – war da mal was? Konnte nach Monaten aufregendster Ereignisse, konnte es nach jenem Herbst 1989 noch etwas geben, was das DDR-Volk wahrhaft erschüttert? Es konnte. Just vor fünf Jahren versammelten sich die Abgeordneten der ersten frei gewählten Volkskammer zu ihrer konstituierenden Sitzung. Es sollte der Auftakt zu 38 tollen Tagen im Hohen und – wie sich später herausstellte – asbestverseuchten Haus sein.
Schon zur Parlamentseröffnung hatte es der DSU-Abgeordnete Lothar Piche ganz eilig mit der deutschen Einheit und sprach die denkwürdigen Worte „Gott schütze unser deutsches Vaterland!“ Es folgten Chaos und Geschäftsordnungsverzweiflung, Tagungen, die unter brüllendem Gelächter fünf Minuten später neu angesetzt, weitere vier Minuten danach bereits wieder zu Ende waren. Vom Schornsteinfegergesetz bis zum Staatsvertrag kam allerhand auf den Tisch.
Und wie ist es den Berliner Abgeordneten seitdem ergangen? Schon die Suche war schwierig. Über manchen Namen staunten die Parteiaktivisten von heute nicht schlecht. „Wer soll das gewesen sein?“, hieß es nicht selten, so als läge die einzige frei gewählte DDR-Volkskammer nicht fünf, sondern fünfzig Jahre zurück. Mancher Volksvertreter wurde von der (Stasi-)Vergangenheit eingeholt, andere wandten sich mit Grausen ab, von Politik und ihrem kurzen politischen Gastspiel wollen sie heute nichts mehr wissen.
Die damals politischen Newcomer von der DDR-SPD haben ihre Kader am besten zusammengehalten, sieben von elf Volkskammerabgeordneten leben auch heute noch von der Politik, bei der PDS sind es noch drei von zehn, bei der CDU zwei von sieben.
Der Aussteiger
„Der Sprung in den Bundestag wäre die Krönung meines Lebens“, hatte der Liberale Peter Thietz noch kurz vor Auflösung der Volkskammer der taz gestanden. Richtig schaffte er den Absprung jedoch nicht, statt dessen landete der damalige Vizechef der Ost-FDP im Europäischen Parlament. Als einer von 18 ostdeutschen Beobachtern, die zwar finanziell gut integriert waren, aber ansonsten praktisch nichts zu melden hatten. Ihn machte es fertig, eigentlich gar nicht gebraucht zu werden. Wenigstens wurde der Frust so gut vergolten, daß es sich Thietz nach seiner Zeit im Europaparlament im Sommer 1994 leisten konnte, zum Ausspannen mal für einige Wochen auf die Philippinen zu reisen.
Womit die zweite ganz persönliche Wende im Leben des Patentingenieurs Thietz, dessen heimliche Leidenschaft in der Volkskammer ja schon immer der Außenpolitik gehört hatte, begann. Der heute 60jährige blieb einfach dort, ließ Familie, Haus sowie alle Verbitterung über die Kälte professioneller Parteipolitik zurück und wurde zum „totalen Aussteiger“, wie seine Frau ihn nennt. Eine Erklärung für den unfaßbaren Schritt hat sie nicht. Ihr war jedoch nicht entgangen, daß ihr Mann zuletzt „total frustriert“ war. Aus der FDP, deren Ostableger er in der Wende-DDR mitgegründet hatte, hatte er sich innerlich längst verabschiedet. Vor allem störten ihn die Unehrlichkeit in der Partei und deren permanenter Hang, ihr Fähnchen nach dem Winde zu drehen, erinnert sich seine Frau. In seinem Beruf war für ihn auch der Zug abgefahren, so blieb ihm nur noch, die Rente zu beantragen. Doch statt die wie jeder ordentliche deutsche Pensionär im Lande auszugeben, denkt Thietz diesmal nicht an das „Gemeinwohl Deutschlands“. Auch in der Fremde nicht verschüttgegangen ist bei dem ehemaligen Mitglied des Volkskammer-Rechtsausschusses allerdings der Sinn für Recht und Gesetz. Demnächst, so seine Frau, wird er doch noch mal in Berlin aufkreuzen, um seine Sachen zu holen – und seine Steuererklärung für 1994 pünktlich auszufüllen.
Der Nachforscher
Als einziger Abgeordneter des „Aktionsbündnisses Vereinigte Linke“ saß Thomas Klein in der Volkskammer. „Wer interessiert sich denn noch dafür?“ Der studierte Mathematiker lacht. Wer erinnere sich heute schon noch an die SPD-Langschläfer, die die gesamte Geschäftsordnung durcheinandergebracht haben, oder an die theatralischen Einlagen des DSU- Zahnarztes.
Doch bei allem Amüsement über die bizarre Mischung aus Anarchie und berechnendem Professionalismus des Westens, dürfe man nicht vergessen, daß die Volkskammer „hauptverantwortlich ist für einige Schweinereien, deren Auswirkungen heute alle DDR-Bürger auskosten müssen“. Letztlich sei die Volkskammer ein authentischer Spiegel der politischen Verhältnisse Anfang 1990 gewesen, die „nur eins zu regeln hatte: die Modalitäten der Wiedervereinigung“.
Thomas Klein ist immer auf Achse, auch wenn der 46jährige in den letzten viereinhalb Jahre überwiegend arbeitslos war. Erst seit kurzem arbeitet der SED-Dissident, der nach einem Knastaufenthalt Anfang der achtziger Jahre zur unabhängigen Friedensbewegung der DDR gestoßen war, mit einem elfmonatigem Stipendium des Potsdamer Instituts für zeitgenössische Studien an Analysen zur SED-Geschichte. Sein Buch über „Repression und Opposition in der SED“ erscheint in Kürze. Als „politisch wirkende Vereinigung“, so klagt Klein, gibt es die Vereinigte Linke nicht mehr, „sie teilt das Schicksal der Teile der Bürgerbewegung, die nicht bei den etablierten westdeutschen Parteien untergeschlüpft sind“. Die Bürgerbewegung ist tot“, konstatiert er heute, „ihre politische Interventionsfähigkeit hat sie längst verloren.“
Die Ruhelose
Wäre es nach Luise Morgenstern gegangen, hätte die SPD mit Manfred Uschner heute ein Mitglied mehr. Sie, die als Hausfrau aus Köpenick 57jährig „und mit einem prima Ehemann im Rücken“ in das erste frei gewählte Parlament der DDR eingezogen war, schwört auf Toleranz und Ehrlichkeit. Sie steht zu jener Offenheit, die ihr später, als sie dann im Bundestag saß, mißbilligende Blicke der Westgenossen einbrachte, weil sie nebst anderen Ostkollegen zur Rede eines Bündnisabgeordneten geklatscht hatte. An ihren sozialdemokratischen Überzeugungen und ihrer Freude darüber, daß nun niemand mehr „das Monopol des Rechthabens besaß“, änderte das nichts.
Von sich reden machte die Volkskammerabgeordnete, als sie nach der Währungsunion regelrecht auf die Barrikaden ging, weil in der Kaufhalle um die Ecke die Schrippenpreise schlagartig auf 30 Pfennige geklettert waren. „Brotpreise sind politische Preise“, argumentierte die Frau, die fünf Kinder großgezogen hatte, und verkaufte in einer Protestaktion im Namen der SPD 3.000 billigere Brötchen, die sie zuvor im Westteil der Stadt erworben hatte. Mit Erfolg. Die Schrippen wurden wieder billiger. „Anders macht das die PDS heute auch nicht. Sie setzt auf Themen, die die Menschen verstehen, und das sind momentan die Mieten.“
Als Luise Morgenstern am 4. Oktober 1990 beim Empfang in der Philharmonie gefragt wurde, ob denn nun alles so sei, wie sie es sich vorgestellt hatte, meinte sie: „Ich hätte gedacht, daß es wenigstens eine neue Hymne geben würde.“ Von einer neuen Verfassung ganz zu schweigen. „Die Volkskammer hat viele Dinge nicht zu Ende bringen können, die notwendig gewesen wären, die heute im wesentlichen Politiker aus dem Westen entscheiden.“ Rückgabe vor Entschädigung, der Palast der Republik – vieles fällt ihr ein. Manches von der DDR, meint sie, hätte auch übernommen werden müssen. „Sero, die Kitas, erschwingliche Preise für öffentliche Verkehrsmittel.“ Diese Einschätzung habe nichts mit DDR- Nostalgie zu tun.
Darüber würde sie sich gerne auch mit noch mehr Leuten streiten, öfter wieder mal mit Schröder, Bahr, Däubler-Gmelin oder Höppner reden, Zeit wäre ja. Doch etliche Einladungen ihrer Genossen muß sie absagen. Von ihren 651 Mark Rente kann sie sich drei Tage im Hotel in Bonn oder anderswo nicht leisten. „Aber wenn's in Berlin was zu bewegen gibt oder die SPD-Ortsgruppe nach Sachsenhausen fährt, sind mein Mann und ich immer dabei.“ Gunnar Leue,
Kathi Seefeld, Christoph Seils
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