piwik no script img

Eine Ikone auf Lesereise

Als wäre die Zeit stehengeblieben: Michail Gorbatschow zieht durch die Lande und bringt seine politische Bilanz unters Volk – auf 1.232 Seiten / Genscher redet, und Diepgen schläft ein  ■ Aus Berlin Thorsten Schmitz

Nur der Papst hatte sich entschuldigen lassen, ansonsten bemühten sich auch VIPs ins Palais am Festungsgraben, die das Verfallsdatum längst überschritten haben. Unsere Leichen leben eben noch.

Hans-Dietrich Genscher erklomm die fünf Stufen des früheren Hauses der Kultur der Sowjetunion im Frührentnergalopp, die Haare eine Spur zu dunkel getönt. Richard von Weizsäcker tat es ihm gleich, die Silberlocke sitzsicher gezähmt sowie geübt im Abschreiten purpurroter Teppichläufer.

Berlins schlampigste Kurzhaarfrisur, Eberhard Diepgen, verbarg sich hinter vier Bodyguards, erkennbar an ihren C&A-Anzügen. Sein fleischgewordener Antipode, Walter Momper, fiel aus der Rolle im rauschhaft karierten Sakko. Pünktlichkeit ist des Preußen Tugend, ja ja, aber so auch anfangen war nicht drin. Selbst für die ortsansässigen Polizeibeamten mit ihren kessen Kinnkreationen wurde der Nervenkitzel unerträglich.

In jeder Leihlimousine („Deutschlands größter Chauffeurservice: 0130/836677) vermuteten sie die Krönung des Nachmittags, standen zum Entzücken der präpubertierenden SchülerInnen Gewehr bei Fuß, und ihr Kompaniechef, ein ausgewiesener Scherzkeks, beließ sie in ihrem Glauben. Als Gorbatschow und Raissa dann tatsächlich vorfahren, empfindlich verspätet, hat ein Rundfunkreporter bereits die Hälfte seines Berichts erstellt, ohne daß die Ikone der verblichenen Sowjetunion auch nur einen vernehmbaren Pups hat lassen können. Dafür blättert er immer wieder in Gorbis Memoiren und ertrinkt in ihnen: „Meine Gesprächspartner waren unverkennbar besorgt“ etwa, „in den Morgenstunden des 31. Mai trafen wir uns erneut unter vier Augen“, oder „zu diesem Zeitpunkt zeichneten sich im Politbüro verschiedene Positionen ab“.

Glücklicherweise hat der Siedler Verlag die Pressemappe bestückt mit brandaktuellen Zeit- und Stern-Interviews, in denen Gorbatschow über den Jelzin herzieht und Rußlands Menschenrechte in Gefahr sieht.

Dann geht alles sehr schnell. Genscher tritt ans Pult, oszilliert, staatsmännisch steifleinen wie stets, von Hülse zu Platitüde, flockt Floskeln („Das Werk ist groß!“) – und von Weizsäcker schickt sich an, in ein Nachmittagsnickerchen zu fallen, Diepgen dann auch. Wach werden sie erst, als das Übersetzungsgerät am Verleger- Ohr Wolf Jobst Siedlers klemmt und aufs Parkett knallt, denn Gorbi stellt sich und seine 1.232 Seiten „Erinnerungen“ vor, Wohnzimmerschrankwandschmuck für 78 Mark das Stück. Duzfreund Genscher läßt in puncto Konvolut, gedruckt auf babyblauem Papier, den einzig möglichen Satz fallen: „Wahrscheinlich sind der Lektor, Gorbatschow und ich die einzigen, die das Buch schon gelesen haben.“ Womöglich werden sie die einzigen bleiben. Denn tatsächlich geht es ja um was ganz Profanes, Sie werden es schon vermutet haben: ums Geldverdienen. Ex-Präsident Gorbatschow, dem das Amt und die Sowjetunion abhanden kamen, finanziert sich und seine Stiftung, indem er seinen angeborenen Fleck auf hoher Stirn in Rubel ummünzt. Solange das Konterfei des guten Russen noch weltweit Sympathieschübe aktiviert, wirbt der Computermulti Apple mit Gorbi, wirbt Bertelsmann mit Gorbis Erinnerungen an den Augustputsch von 1991. „Von dem“, behauptet einer aus Gorbis Entourage, „läßt sich im Moment noch jedes Wort zu Kasse machen.“ – Die Verwandlung des Kommunisten in den Kolumnisten Michail Gorbatschow ist ohne Raissas Reglement allerdings nicht denkbar. 40 Minuten läßt der gewesene SU-Lenker Geschichte wach werden, ohne Kohl, weil der seinen Geburtstag feierte in Oggersheim, und ruft doch nur kollektive Atemnot hervor.

Und weil es nicht den Anschein hatte, als würde er so bald zu referieren enden, kramt Raissa einen Taschenschminkspiegel von Chanel hervor und blendet ihrem Gatten damit in die Augen. Der stupende Strahl tut Wirkung: So kurz geblendet, endet Gorbatschow abrupt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen