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Die Augen der Mörder sind voller Unschuld

Ein Jahr nach dem Beginn der Massaker in Ruanda trennen nach wie vor tiefe Gräben Überlebende von Tätern. Die Regierung verfügt nicht über die Mittel, eine Aufarbeitung der Vergangenheit und damit die Möglichkeit einer Versöhnung herbeizuführen  ■ Von Bettina Gaus

Etwa 50 Dorfbewohnerinnen stehen schweigend am Rand der kleinen, ungeteerten Straße im südruandischen Ort Buranga und beobachten die elegante Frau, die mit starrem Gesicht und zusammengepreßten Lippen aus einem Geländewagen aussteigt.

Eine Dorfbewohnerin nach der anderen kommt, drückt ihre Hand, umarmt sie, murmelt einige Worte. Einige haben Tränen in den Augen. Die Frau erwidert die Umarmungen mit kaum angedeuteten Bewegungen eines steif abgewinkelten Armes und einer leichten Neigung ihres völlig verkrampften Körpers. „Ich weiß, daß hier alle dazugehören“, preßt sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Aber ich muß mich zusammennehmen.“

Marie-Claire Wiesenhofer, gebürtige Ruanderin, ist in Österreich verheiratet und arbeitet in der Nähe von Graz als Arzthelferin. In Buranga ist sie geboren und aufgewachsen. In den vergangenen Jahren ist sie immer wieder hierhergekommen, um ihre Familie zu besuchen, die zur Bevölkerungsminderheit der Tutsi gehörte. Jetzt gibt es niemanden mehr, den sie besuchen könnte: „Mehr als 60 von meinen Angehörigen sind umgebracht worden, genauso wie die anderen Tutsi hier, alle. Nur ein Cousin hat überlebt. Der hat sich im Sumpf versteckt.“

In Ruandas Städten sind kaum noch Hinweise auf das Blutbad und den Krieg zu erkennen. Die Märkte sind voll mit Lebensmitteln, Kosmetika und Haushaltswaren. Es gibt Strom und Wasser. Krankenhäuser, Schulen und Behörden sind geöffnet. Die üppige, wuchernde Fruchtbarkeit verdeckt jetzt auch auf dem Land die Spuren der Massaker, denen im vergangenen Jahr mindestens eine halbe Million Männer, Frauen und Kinder zum Opfer gefallen sind. Die Ruinen der Lehmhäuser, deren Wände mit Äxten und Knüppeln zertrümmert wurden, sind inzwischen von Büschen, Bäumen und Gras überwachsen.

„Ich kann schon selbst kaum noch erkennen, wo hier früher jemand gewohnt hat“, sagt Marie- Claire Wiesenhofer. „Hier waren doch überall Häuser. Da drüben auch. Jetzt ist da nichts mehr, gar nichts.“ Nur noch Angehörige der Hutu-Bevölkerungsmehrheit wohnten noch in dem Dorf, meint die Arzthelferin, die überzeugt ist, daß auch die Mörder hier weiter unbehelligt leben. Alle Augenzeugen seien ja ermordet worden.

In Buranga begann das Töten erst am 23. April, mehr als zwei Wochen nach dem Beginn der Massaker in Ruandas Hauptstadt Kigali. Warum sind die Tutsi in Buranga nicht vorher geflohen oder haben sich wenigstens bewaffnet? „Das habe ich mich auch gefragt“, meint Marie-Claire Wiesenhofer. „Ich habe gefragt: Warum seid ihr nicht weggelaufen? Mein Cousin sagt: Um Gottes willen, es hat doch keiner geglaubt, daß unsere eigenen Nachbarn kommen und uns töten.“

In einigen Fällen wurden die Opfer sogar von ihren eigenen Angehörigen ermordet: „Meine Schwägerin war eine Hutu. Sie hat sich mit ihren Kindern bei ihren Eltern versteckt. Aber ihre Onkel haben ihren Mann getötet, meinen Bruder, und sie haben ihre Kinder, Erik und Alphonse, von der Mutter weggenommen und getötet, vor ihren Augen, und gesagt: Das ist eine schmutzige Rasse.“ Der eineinhalbjährige Erik wurde mit dem Messer erstochen, der dreijährige Alphonse – noch lebend – in die Latrine geworfen.

Marie-Claire Wiesenhofer sagt, daß sie es schwierig findet, heute noch einem Hutu zu vertrauen und über mögliche neue Formen des Zusammenlebens nachzudenken: „Es ist noch zu früh. Die Wunden sind noch nicht verheilt.“ Ohnehin will sie selbst nie wieder in ihr Dorf zurückkehren: „Was soll ich hier? Ich habe hier ja niemanden mehr. Ich habe nur die Feinde, die Mörder meiner Familie. Was soll ich mit denen? Diskutieren, lachen – wie früher?“ In Ruandas Kabinett sitzen Tutsi und Hutu, Militärs und Zivilisten gemeinsam, seit im Juni 1994 die Rebellenbewegung RPF (Ruandische Patriotische Front) Kigali und damit die Macht erobert hat. Aber noch ist nicht entschieden, wer in Zukunft in Ruanda das Sagen haben wird. Diejenigen, die heute hier leben, sind noch nicht wieder zu einer Gesellschaft zusammengewachsen: Überlebende der Massaker wohnen neben Familien, die nach ihrer Flucht ins Ausland einige Monate später zurückgekehrt sind, und neben Neuankömmlingen, deren Eltern nach der Revolution Ende der 50er Jahre ins Exil gegangen waren und die jetzt die Heimat ihrer Vorfahren zum erstenmal zu Gesicht bekommen. Es gibt sogar Sprachprobleme: Ruanda gehört zum französischen Sprachraum; wer aber aus dem nördlich gelegenen Uganda hierherkommt, spricht Englisch. Die ruandischen Kinder, die heute die Schule besuchen, können sich jetzt aussuchen, in welcher Sprache sie unterrichtet werden und ihre Examen ablegen wollen.

Die Vorstellungen der Politiker und der hochrangigen Militärs in der neuen Regierung klaffen zum Teil weit auseinander. „Theoretisch gibt es eine Arbeitsteilung zwischen Militärs und Zivilisten“, erklärt UN-Menschenrechtsbeobachter Jopie Duijnhouwer. „Praktisch hat aber das Militär das letzte Wort, vor allem in Bereichen, die ihm wichtig erscheinen.“ Der Niederländer, der vor Beginn der Massaker als Mitarbeiter einer ausländischen Organisation in Ruanda arbeitete, hat in den letzten Monaten von willkürlichen Verhaftungen über Lynchjustiz bis zur Mißhandlung von Gefangenen von vielen Menschenrechtsverletzungen Kenntnis erhalten. Aber er steht seinem eigenen Auftrag kritisch gegenüber: „Wir sollten vom hohen Roß herunterkommen. Wir fahren hier in der Provinz Butare mit vier Autos herum und überwachen, was die lokalen Behörden machen, die insgesamt auch nur ungefähr so viele Fahrzeuge haben wie wir. Wir sagen ihnen die ganze Zeit, sie sollen alles richtig machen, aber gleichzeitig geben wir ihnen nicht die Mittel an die Hand, um es richtig zu machen.“

Jopie Duijnhouwer erzält, daß Überlebende ihn immer wieder fragen, weshalb die Welt sich jetzt so sehr für die Beachtung der Menschenrechte interessiere, aber vor einem Jahr nichts getan habe. Die UNO hatte kurz nach Beginn des Blutbads fast alle ihre Friedenstruppen abgezogen und erst nach Ende des Bürgerkrieges neue Blauhelme nach Ruanda entsandt.

Kritik wird auch in anderem Zusammenhang laut: Die Vorbereitungen für das internationale Tribunal, in dem die Hauptschuldigen der Massaker abgeurteilt werden sollen, schleppen sich dahin – aus verwaltungstechnischen Gründen, wie UNO-Sprecher sagen. Frühestens in der zweiten Jahreshälfte wird mit dem Beginn des ersten Prozesses gerechnet. In Ruanda selbst sind in den letzten Monaten Tausende verhaftet worden. Selbst nach Angaben des Justizministeriums sitzen in den Gefängnissen inzwischen fast doppelt soviele Häftlinge, wie sie eigentlich aufnehmen können. Die Sorge wächst, daß in zahlreichen Fällen Unschuldige verhaftet wurden, die Opfer eines verbreiteten Bedürfnisses nach Rache geworden sind. Jopie Duijnhouwer meint, daß die Gräben zwischen den Bevölkerungsgruppen sich vertiefen, solange die Mörder nicht abgeurteilt worden sind: „Es gibt jetzt eine Radikalisierung in beiden Lagern. Sie entwickeln eine ganz unterschiedliche Geschichtsschreibung.“

Im Gefängnis von Kigali findet sich niemand, der im Gespräch seine Teilnahme an Massakern zuzugeben bereit wäre. Der Häftling Kizitu Mugemanshuro, der wie fast alle hier unter Mordverdacht steht, führt Journalisten herum und weist sachlich auf die Bedingungen hin: Jede Zelle ist von vier oder fünf Mann belegt. Hunderte müssen im Freien schlafen. Verhaftet wurden sogar Kinder wie der zwölfjährige Aloise, der beteuert: „Ich habe nichts gesehen. Sie haben mich einfach geholt. Mein Vater ist geistesgestört, meine Mutter ist tot. Niemand besucht mich. Ich will nach Hause.“ Mugemanshuro ist geduldig, höflich und freundlich. Wenn er lächelt, lächeln seine Augen mit. Ist es vorstellbar, daß dieser Mann andere bestialisch abgeschlachtet hat? War er ein ebenso musterhafter Mörder, wie er jetzt ein musterhafter Gefangener zu sein scheint?

Unter den gegenwärtigen Umständen lassen sich diese Fragen kaum klären. Die Regierung weist darauf hin, daß ihr derzeit fast alle Mittel fehlen, um rechtsstaatliche Prozesse in angemessener Zeit abhalten zu können: „Die Zahl der Richter ist auf ein Minimum geschrumpft. In Kigali gibt es wenigstens noch einige, aber in anderen Städten überhaupt niemanden mehr“, so Justizminister Alphonse-Marie Nkubilo. Das Ausland reagiert auf Bitten um Hilfe beim Aufbau eines Justizwesens oder gar beim Bau größerer Gefängnisse nur zögernd. Jetzt bittet Ruandas Regierung um die Entsendung ausländischer Juristen.

Furcht vor willkürlicher – oder berechtigter – Verhaftung beherrscht viele Ruander, die derzeit noch nicht nach Hause zurückkehren wollen. Nach wie vor leben Hunderttausende von Flüchtlingen im Ausland, vor allem in Zaire und Tansania. Neben notleidenden Zivilisten werden dort auch Vertreter der alten Regierung, Milizen und weite Teile der ehemaligen Armee von Hilfsorganisationen versorgt. Presseberichten zufolge erhalten Lagerbewohner Rüstungsgüter aus dem Ausland. Ohnehin hatten viele ihre Waffen bei der Flucht mitgenommen. Die Regierung in Kigali hat dagegen Schwierigkeiten, ihre Verteidigung zu organisieren: Aus den Zeiten des alten Regimes ist noch immer ein internationales Waffenembargo gegen Ruanda in Kraft.

Auch im Lande selbst leben noch immer mindestens 250.000 Kriegsvertriebene in Camps. Die meisten sind Hutu. Sie drängen sich auf den grünen Hügeln im Südwesten in der Umgebung der Stadt Gikongoro. In der Gegend hatten französische Truppen eine Schutzzone für Flüchtlinge eingerichtet und damit nach Ansicht ihrer Kritiker auch vielen Mördern Unterschlupf geboten.

Beobachter halten es für möglich, daß Ruandas Regierung die Camps bald gewaltsam schließen wird. Unter den Lagerbewohnern herrscht Angst: „Sogar Minister geben doch zu, daß Leute ohne Grund verhaftet worden sind“, sagt der Lehrer Valery Zikuliza, der seit Juli im Lager Kibeha, der größten Ansammlung von Vertriebenen, lebt. „Ich will nach Hause. Aber ich will warten, bis sich die Situation normalisiert hat.“

Ein Jahr nach Beginn des Massakers sind noch immer sehr wenige Ruander zu einem normalen Alltag zurückgekehrt. Einige Kilometer von Kibeha entfernt wird gerade ein neues Lager mit Plastikplanen und behelfsmäßigen Hütten aufgebaut. Tutsi-Flüchtlinge ziehen hier ein, die bis vor kurzem in der Oberschule der Stadt Butare untergebracht waren. Jetzt wird in dem Gymnasium wieder unterrichtet – die Hilfesuchenden mußten gehen. Sie stammen aus der Gegend um Gikongoro. Solange es dort die Lager der Vertriebenen gibt, wagen sie es nicht, nach Hause zurückzukehren. Ein Klima friedlicher Entspannung ist für die meisten Menschen in Ruanda nach wie vor ein unerfüllter Traum.

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