: Eindeutig falsch gebaut
Die Kommission zur Untersuchung der „Estonia“-Katastrophe veröffentlicht ihren ersten Bericht / Schlamperei und Behördenfilz ■ Aus Stockholm Reinhard Wolff
Eine Frage ist geklärt – die wichtigste. Die Fähre „Estonia“ ist im letzten Herbst untergegangen, weil ihre Bugklappe gleich doppelt falsch konstruiert war. Einmal fehlte ein Sicherheitsschott hinter dem Bugtor, zum andern war der Verschluß am Schiffsrumpf zu schwach. Nur der erste dieser Mängel verstieß gegen geltende Sicherheitsvorschriften. Zwingende Regeln für den Bau der Bugverschlüsse („Atlantikschloß“) gibt es bisher nicht.
Offen läßt der Teilbericht, den die internationale Havariekommission gestern veröffentlicht hat, ob und wie andere Fehler – der Besatzung, der Reederei, der Behörden und der Klassifizierungsgesellschaft – Anteil an der Katastrophe hatten, die wahrscheinlich etwa 900 Menschenleben gekostet hat. „Das ist ein rein technischer Bericht“, sagt der technische Experte der Havariekommission, Börje Stenström, „der sich an die Fachwelt richtet. Die technischen Systemfehler müssen so schnell wie möglich behoben werden, vor allem was die Nachrüstung älterer Schiffe angeht.“
Die Havariekommission schlägt vor, Bestimmungen für die Konstruktion des „Atlantikschlosses“ zu erlassen. Auch die Vorschriften für Zwischenschotts sollen verschärft werden. Selbst wenn sich der Bericht auf die technischen Probleme beschränkt, wirft er doch Fragen an die Seesicherheitsbehörden und die Klassifizierungsgesellschaft „Bureau Veritas“ auf. Das Bild einer organisierten Verantwortungslosigkeit und gegenseitiger Abhängigkeiten zeichnet sich ab. Bei einer Konferenz von 150 Seesicherheitsexperten des Seesicherheitskomitees „Nordkompass“, stellte sich heraus, daß der Verstoß gegen geltende Vorschriften zur Bauzeit der „Estonia“ die Regel war. Arnold Hansen, Marinetechniker aus dem norwegischen Trondheim: „Die Sicherheitsmarginalien auf den Werften wurden immer weiter verschoben, ohne daß dies von den Forschern abgesegnet worden wäre.“ Der norwegische Seesicherheitsdirektor Invar A. Manum: „Wir haben uns zu sehr um einzelne Details gekümmert und immer weniger um das Zusammenspiel, die Gesamtkonstruktion. Es wurden undurchdachte Kompromisse gemacht.“
Im Fall der „Estonia“ hatte die Reederei eine vorschiftswidrige Konstruktion aus wirtschaftlichen Gründen verlangt. Die Mayer Werft in Panenburg hat sie geliefert, Behörden und Klassifizierungsgesellschaft haben sie abgsegnet. Fest scheint zu stehen, daß die finnische Seesicherheitsbehörde mangels eigener Kompetenz das „Bureau Veritas“ mit der Kontrolle der späteren „Estonia“ beauftragt hatte. Diese Klassifizierungsgesllschaft hatte ihrerseits keinerlei Erfahrung mit Passagierfährschiffen. Sie wollte dennoch ins Geschäft kommen und warb Inspekteure der schwedischen Seesicherheitsbehörde an, die für die Abnahme des „Estonia“-Schwesternschiffs „Diana II“ zuständig waren. Die Beamten hätten den Auftrag niemals annehmen dürfen. Nicht um diesen Sumpf will sich die Havariekommission nunmehr kümmern – die Behörden sind kräftig darin vertreten –, sondern um Fehler der Besatzung und des Kapitäns. Kommissionsmitglied Olof Forssberg: „Im Schlußbericht werden wir vielleicht zum Ergebnis kommen, daß das Unglück nicht passiert wäre, wäre das Schiff langsamer gefahren.“
Im Herbst soll der Schlußbericht vorliegen. Nicht nur Lennart Berglund, der Opfer der „Estonia“-Katastrophe vertritt, befürchtet, daß die Kommission ein Szenario entwirft, in dem „alle irgendwie verantwortlich, aber niemand schuldig“ ist.
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