piwik no script img

Am Ende wenig Licht im Dunkeln

■ Heute wird im Prozeß um türkisches Familiendrama mit drei Toten das Urteil gesprochen / Viele Fragen bleiben offen

„Das paßt alles nicht zusammen.“ Werner Schiffauer, Autor des Buches „Die Macht der Ehre“, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit europäischer Ethnologie. Doch das Drama, bei dem im Mai letzten Jahres drei Menschen einer türkisch-kurdischen Familie durch eine Splitterhandgranate und Pistolenschüsse starben, gibt ihm Rätsel auf. Auch wenn heute ein Urteil fallen wird, bleiben weiterhin viele Fragen in dem Indizienprozeß offen, der sei Anfang März um sexuellen Mißbrauch, Inzest, verletztes Ehrgefühl, Gesichtsverlust und Schutzfunktion der Familie kreiste.

Fest steht zumindest, daß Eylem Y., die 17jährige Nichte des Angeklagten Orhan I., die Tragödie in der Manteuffelstraße vor knapp einem Jahr auslöste. Ein halbes Jahr nach ihrer Hochzeit hatte sie ihren Onkel am Telefon beschuldigt, sie in ihrer Kindheit vergewaltigt zu haben, ein Vorwurf, der zum Tod von ihrem Ehemann Ali und ihren Schwiegereltern führte. Zwei Schwägerinnen von Eylem hatten am Telefon mitgehört, wie der Angeklagte auf den Vorwurf mit den Worten reagierte: „Du hast wohl den Verstand verloren. Wir sprechen später darüber.“

Die Anklage geht davon aus, daß Orhan I. wegen des schlimmen Verdachts in die Manteuffelstraße gefahren sei und seine Nichte überreden wollte, mit ihm mitzukommen. Der Angeklagte bestreitet sowohl das Zünden der Handgranate als auch den Vorwurf des sexuellen Mißbrauchs. Da Eylem zu Prozeßbeginn überraschend die Aussage verweigert hatte, blieben sowohl der Mißbrauchsverdacht als auch ihr Verhältnis zu dem Angeklagten vollkommen im dunkeln.

Die Staatsanwaltschaft sieht es als erwiesen an, daß Orhan I., der einzige in Deutschland lebende Verwandte von Eylem, mit einem „gezielten Vernichtungswillen“ von Duisburg nach Berlin gekommen war. Nach der Explosion der Handgranate sei Eylems Schwiegermutter von ihm durch einen Kopfschuß getötet worden. Die beiden Schwägerinnen der Nichte wurden ebenfalls durch Pistolenschüsse verletzt. Weil Orhan I. nach der Explosion unter Schock gestanden habe, sei er bei den späteren Schüssen nicht mehr voll schuldfähig gewesen. Die Staatsanwaltschaft ging zugunsten des Angeklagten davon aus, daß allein die Anschuldigung eines Inzests so schwerwiegend gewesen sei, daß es zur Tat kam. Der Angeklagte habe die Familie Y. für die Demütigung strafen wollen. Der Forderung der Staatsanwaltschaft nach lebenslanger Haft schloß sich auch der Anwalt der drei Nebenklägerinnen an, die bei der Tragödie ihren Bruder Ali und ihre Eltern verloren hatten.

Die Verteidiger von Orhan I., die Freispruch forderten, sprachen in ihren Plädoyers von einer „Armut an objektiven Indizien“. Für Wahlverteidiger Rolf Bossi, der die Geschehnisse als „komplex und irrational“ bezeichnete, wäre es „menschlich näherliegend“, daß der getötete Ehemann die Granate gezündet hat, weil Eylem ihren Mann angeblich mit dem Angeklagten verlassen wollte. Indizien für diese Version gibt es freilich nicht. Andererseits schloß selbst die Verteidigung nicht aus, daß der Angeklagte wegen des fürchterlichen, aber aus ihrer Sicht unzutreffenden Inzest-Vorwurfs einen „kollektiven Selbstmord“ begehen wollte.

Der Ethnologe Werner Schiffauer kam in seinem Gutachten genausowenig wie der Psychologe zu einem eindeutigen Ergebnis. Schiffauer, der in der Türkei auch mit Eylems Familie sprach, hatte versucht, die Frage zu klären, wer in den Familienverbänden wie hätte handeln können oder müssen. Die Pflichtverteidigerin von Orhan I. ist überzeugt, daß Eylem „etwas in Gang gesetzt hat, was dann nicht mehr zu steuern war“. Barbara Bollwahn

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen