: Tramfahren als Computerspiel
■ STN Atlas Elektronik entwickelt Simulatoren für Straßenbahnfahrschüler
Neidisch schielt die BSAG nach Zürich: In zwei Monaten werden dort alle 1300 FahrerInnen jede erdenkliche Verkehrssituation erlebt und entsprechende Reaktionen eingeübt haben: Ob der Ball eines Kindes die Schienen kreuzt, der Winter die Spuren eisglatt gemacht hat, die Vorfahrtsregeln mißachtet werden, ein Wagen aus dem Gleis springt – selbst frischgebackene TramführerInnen wissen, damit umzugehen. Sie haben diese Situationen am Simulator eingeübt, der von der Bremer Firma STN Atlas Elektronik gebaut und gestern der Öffentlichkeit vorgeführt wurde.
Der Simulator besteht aus der originalgetreuen Führerkabine einer Straßenbahn, vor der sich eine dreiteilige Leinwand wölbt. Die in zwei Jahren von einem etwa zehnköpfigen Team erdachte Computertechnik ist in zwei unauffälligen Rechnern untergebracht. Diese haben jede Straße, die in Zürich von einer Tram befahren wird, originalgetreu gespeichert. 2000 Fotos, computerkatalogisierte Bauwerke, Bäume, Gleisanschlüsse wurden verarbeitet. Das perfekte Innenstadtszenario wird über ein dreikanaliges Projektionssystem für die Voraussicht und einen weiteren Kanal für die Rückspiegelsicht dargestellt. Anders als in Computerspielen haben alle Bilder 3-D-Qualität. Perspektiven öffnen Räume, in denen die VerkehrsteilnehmerInnen wirklichkeitsnah agieren.
Gleichzeitig wird jede Reaktion des Fahrers sofort umgesetzt. Fährt er zu schnell um die Kurve, antwortet der Simulator mit schnellen seitlichen „Rucks“. Seichtes und hartes Bremsen registriert der Computer ebenso, wie er Geschwindigkeitsveränderungen durch Höhenunterschiede in der Strecke vorgibt. Originalgeräusche, die zu jeder Fahrweise den passenden Sound liefern, ergänzen die „Echtzeitfähigkeit“ des Simulators. Der Fahrlehrer sitzt hinter dem Eleven und simuliert am Computer Vorfälle. Er ist Herr über den Verkehrsfluß und löst je nach Lust Gleiswechsel und Unfälle aus.
Die Reaktionen der FahrschülerInnen wird per Kamera festgehalten. Jeder Fehler ist genau rekonstruierbar, und kann nicht, wie üblich, der Technik angelastet werden. Untersuchungen ergaben, daß die jährlich etwa 1000 bis 1500 Straßenbahn-Störfälle in Berlin zu 60 Prozent auf Bedienungsfehler zurückzuführen sind.
Umso erstaunlicher, daß der Simulator der STN Atlas Elektronik weltweit der erste seiner Art ist. Die Firma, die mit Simulatoren für U-Boote und andere militärische Fahrzeuge begann, setzt im Rahmen des Konversionsprogramms ihr technisches Know-how immer häufiger für die zivile Nutzung ein. So entwickelte sie vor etwa dreieinhalb Jahren ein Simulationsprogramm für LKW's. Doch bis heute ist selbst für den Transport von Gefahrengütern die Spezialausbildung der FahrerInnen in Deutschland eine rein theoretische. Dabei rechnet sich ein Simulator, der als Grundbausatz eine bis zwei Millionen Mark kostet, selbst dann noch, wenn das 100prozentig nachempfundene Innenstadtszenario oder komplizierte Nachbauten alter Modellbahnen die Kosten auf bis zu vier MillionenMark in die Höhe treiben. Schon nach drei Jahren haben sich die Kosten amortisiert, meint Manfred Oelfke, technischer Geschäftsführer bei STN Atlas. Denn einzurechnen seien neben eingesparten Unfallfolgekosten die rationelle Organisation der Aus- und Fortbildung. Außerdem werden Energie und Ressourcen geschont.
Gründe genug, daß neben Stuttgart und Berlin auch Bremen großes Interesse am Simulator hat. Hubert Resch, Arbeitsdirektor bei der BSAG, hofft, daß der Simulator noch in diesem Jahr serienreif und damit auch für sein Unternehmen erschwinglich wird. Dann würde die BSAG, die bislang ihre FahrschülerInnen auf eigens angschafften Übungswagen trainieren läßt, auf den Kauf einer überfälligen Ausbildungs-Niederflurbahn verzichten, die ebenfalls etwa drei bis vier Millionen Mark kostet.
Dora Hartmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen