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Nachschlag

■ Der Techno-Angriff: Chromapark 95 im E-Werk

Es gibt weder Anfang noch Ende. Irgendwann, wenn du die Türsteherin überwunden hast – eine eingefroren blickende Octopussy mit Gehörschaden – bist du plötzlich drin, ohne zu wissen, wie du hergekommen bist, noch wie du wieder rauskommst.

Es gibt zwei Ströme, die das Publikum treiben. Der eine ist der Besucherstrom, und nicht so wichtig: Menschen, die irgendwo hinwollen, an die Bar, zur Tanzfläche, auf den Trip, in die Blue Box, zu den Bekannten. Menschen, die in ihrer Vielfalt schillern, kuck mal, Transvestiten, hör mal, wer da spricht. Der andere, das ist der Bewußtseinsstrom. Auf ihn allein soll es ankommen.

Von der Partyzone führt eine Wendeltreppe herab. Hier beginnt Chromapark. An der ersten Wand hängen beleuchtete Schwarzweißfotos von Männern und Frauen, frank, frei und unverhüllt, die Fratzen schneiden und grinsen. Wie aus einem privaten Album. Der labyrinthische Gang führt weiter zu rot-blau- grün-gelb-colorierten Bildern von überdimensionalen weiblichen Geschlechtern: „Cunnilingus Lovers“. Mit einer Drehung landet man im Relaxorama, dem Herz der Party-Installation.

Dort ist es ruhig, technolos. Nur menschliches Gegrummel, während anderen die Münder vor Staunen offenstehen. Unter der Decke schweben gläserne Mobiles, die zauberhaftes Licht reflektieren. Eine Leinwand zeigt computeranimierte Schnecken, die sich küssen und sich verwandeln in ein Sonnengesicht und wieder in zuckende Kugeln. Diaprojektoren spielen mit Buchstaben, Farben, Formen und geben Rätsel auf: Wie heißt das Wort, das gespiegelt auftaucht? F-R-A-G-I-L. Auf kleinen, mit hellblauem Teppich ausgelegten Plattformen sitzen die Gäste, wundern sich oder hängen ihren Gedanken nach.

Der Chromapark ist aber nicht nur Chillout. Man kann Techno-T-Shirts kaufen, sich auf dem Weg zur Bar in ein Spiegelkabinett verirren, wieder nach oben gehen, wo die Techno-Schläge zum Tanz bitten oder, wenn es einem zu langweilig wird, per Internet die Party wechseln oder das Zeitalter. Im Begleittext wird das Ziel der Ausstellung so definiert: „Chromapark als konkrete Utopie des Zukunftsmodells einer menschlichen Informationsgesellschaft. Die digitalen Dimensionen sind die Weite des Raums, die Verfügbarkeit von Wissen und die globale Kommunikation. Die analoge Basis liegt im Selbstausdruck, in Erfahrungen, im Ursprünlichen und Elementaren.“

Chromapark, das ist Techno, der an den Sinnen kitzelt. Ist Techno, vor dem uns unsere Eltern niemals warnen würden, weil sie dabei selbst etwas entdecken könnten – ohne sich gleich einen Gehörschaden einzufangen. Deshalb ist die Schau auch nicht nur „der wichtigste event im house & techno-Spectrum neben der Love-Parade“, wie Frontpage verkündet. Chromapark ist ein Familienausflug in die Dancefloor-Kultur. Wolfgang Farkas

Chromapark 95, bis 23. 4. 95, Ausstellung von 12 bis 20 Uhr, ab 22 Uhr tgl. Party, E-Werk, Wilhelmstr.43, Berlin-Mitte

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