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Ein Klo für 72 Frauen

■ Von der Suppenlina, Salondamen und Bolle- mädchen – Eine Berliner Stadtgeschichte der Frauen

Kennen Sie das Grab der Suppenlina, der Begründerin der Suppenküchen? Es liegt auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee. Waren Sie schon einmal am Zwirngraben am Hackeschen Markt? Ein ehemals verrufener Ort, weil sich viele Arbeiterinnen der Seidenzwirn-Manufaktur vor den Fabriktoren prostituiert haben. Claudia von Gélieu hat sich an Orte begeben, die Geschichte sind, die aber nicht Geschichte gemacht haben. Orte, die den Alltag der Frauen bestimmten. Und es ist nicht nur die Rede von alltäglichen Frauen.

Berichtet wird von Bollemädchen, Glühlampenarbeiterinnen, Wäscherinnen, den ersten Fahrradfahrerinnen, aber auch von der „Karschin“, einer dichtende Frau aus dem Volk. Rahel Varnhagen und Henriette Herz haben literarische Salons geführt, in denen Schleiermacher, Schlegel und die Gebrüder Humboldt verkehrten.

Aber auch Prosaisches wird dokumentiert. Einen skurrilen Brief hat von Gélieu im Museum Berliner Arbeiterleben entdeckt. Ein Dr. med. Stryck wehrt sich dagegen, daß er in sein Mietshaus am Prenzlauer Berg zwei neue Wasserklosetts einbauen soll. Akribisch errechnet er die durchschnittliche Zeit für eine Sitzung (3-4 Minuten) und kommt zu dem überraschenden Ergebnis, daß ein Klosett für 72 Personen reicht.

Dr. Stryck ging bei seiner Minutenkalkulation davon aus, daß die Frauen ihre Kleider nachher nicht wieder in Ordnung bringen müssen. Diese erstaunliche Annahme beruht darauf, daß Frauen bis zum letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts keine Unterhosen trugen. Das sagt uns die Autorin. Galt das für Bauersfrauen und Salondamen gleichermaßen? Immer wenn es spannend wird, ist das Kapitelchen zu Ende. Gleichsam atemlos wird durch die Stadt der Frauen galoppiert, und manche Statements kommen einem tatsächlich auch so vor, als erzählte da eine was vom Pferd.

Zum Thema Kindsmord wird aus der Berliner Stadtchronik zitiert. Die berichtet mit Datum vom 28. Juni 1701, daß ein „Weibsstück, von Schwanebeck bürtig, etliche 30 Jahr alt, vor dem Spandoschen Thor im Sacke gesteckt und in der Spree ersäuft, weil sie ihr Kind ermordet und den Schweinen fürgeworfen“. Dann schreibt von Gélieu aber nur lapidar, daß nicht zuletzt die zahlreichen literarischen Verarbeitungen die heftige Diskussion über das Thema Kindsmord belegen. Es folgen noch die Aussagen: „Die bekannteste (Verarbeitung) ist Gretchen in Goethes ,Faust‘. Als Rat am Weimarer Hof hat Goethe selbst mehrere Todesurteile von Kindsmörderinnen unterzeichnet.“ Ende des Kapitels.

Was soll das heißen? War sich Goethe der sozialen Not und des moralischen Dilemmas der Kindsmörderinnen so bewußt, daß er das Motiv in den „Faust“ einbaute? Oder will uns die Autorin bedeuten, daß Goethe als hoher höfischer Ministerialer Teil eines heuchlerischen Repressionsapparates war? Und wenn man den LeserInnen schon die Klassiker um die Ohren schlägt, um zu enthüllen, was für ein patriarchalisches Pack das war, sollte man wenigstens richtig und vollständig zitieren. „Dienen lerne beizeiten das Weib“, heißt es in der Tat in „Hermann und Dorothea“, aber Goethe fährt fort: „Denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen.“

Auf zur Bolle-Meierei und zum Galgenhaus. Das kleine Büchlein paßt in jede Tasche. Aber die Lektüre wäre befriedigender, wenn die 70 Kapitelchen weniger kurzatmig wären. Eva Schäfers

Claudia von Gélieu: „Frauengeschichte entdecken in Berlin“. Elefanten Press, 192 Seiten.

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