: Wo jeder Zentimeter zählt
Eine Fahrt entlang der Golanhöhen: Drusendörfer, Kibbuze, rostende Panzerwracks unter Eukalyptusbäumen und die Hoffnung auf Frieden ■ Von Joachim Dresdner
In Galiläa, unterhalb der besetzten Golanhöhen, mag man an Frieden nicht so recht glauben. Hinter dem Kibbuz Dafna führt ein Weg mit hellen Schottersteinen zur Steppe. Das ist der Ort, an dem der Dan und der Hisbani zusammenfließen. Mit dem Banias, weiter östlich, speisen diese Flüsse etwa drei Kilometer weiter südlich den Jordan. Wir sind im Quellgebiet. Wir sind in Israel, im einstigen Dreiländereck Libanon, Syrien, Israel. Hier zählt jeder Zentimeter. Immer wieder versuchten die syrischen Soldaten, die Quelle des Dan-Flusses einzunehmen, deren kühles Wasser nach einem genau berechneten Verteilsystem den Kibbuzim in diesem Gebiet zugeleitet wird. Wir stehen vor Avocado-, Apfelsinen- und Grapefruitplantagen. In Sichtweite die Minenfelder des Sechs- Tage-Krieges von 1967. Sie zu räumen wäre lebensgefährlich, es gibt keine Lagekarten. Unter Eukalyptusbäumen rostet seit 27 Jahren ein Panzerwrack. Die Fahrt führt in besetztes Gebiet. Von der Hermon-Paßstraße sehen wir weit hinein nach Israel. Ein idealer strategischer Punkt. Das Land liegt, einem Fächer gleich, vor uns ausgebreitet: Die weiten, hellen Flächen mit dürren, vertrockneten Gräsern, dazwischen Eukalpytuswälder, und dort, wo das Wasser der Flüsse hinführt, die Kibbuzim mit ihren Obst-, Gemüse- und Baumwollfeldern. Wir können uns kaum vorstellen, mit welch großem körperlichen Aufwand die Landwirtschaft hier von den ersten Einwanderern – die meisten kamen kurz nach der Staatsgründung – neu begonnen wurde. Die großen Einwandererströme lenkte man in die landwirtschaftliche Arbeit. Damals mußten die Behörden ein Zuteilsystem, später eine Zwangsbewirtschaftung mit Nahrungsmitteln festlegen. „Die Speisekarte des Bürgers sei ... aus billigen Lebensmitteln zusammenzustellen. Ein Tagesverbrauch von 2.700 bis 2.800 Kalorien, der die Gesundheit und Arbeitskraft gewährleiste, solle angeordnet werden“, schrieb Ben Gurion in seinem Geschichtsbuch über das Jahr 1949.
Diese Zeilen haben wir im Gedächtnis, als wir in Neve Ativ halten. Hier wurde ein luxeriöses Feriendorf eröffnet, mit Ausblick auf die Berglandschaft des Hermon: „Holiday Village“. Die gelblichen Steine kommen aus dem Banias- Gebiet. Woher stammt das viele Holz? 44 Finnhütten, ein Haupthaus mit Swimmingpool, Whirlpools und einem Gesundheitszentrum, zu dem die Physiotherapie, der Kraftraum und getrennte Saunen für Männer und Frauen gehören. Darüber streckt sich, hinter einer langen Glasreihe, der Spielautomatensaal, dem sich die Gäste-Disco mit Lasertechnik anschließt. Natürlich gibt es auch einen Pub und eine Bar. Die Übernachtung im Skigebiet des Hermon kostet zwischen 400 und 600 Mark. Hauptsaison ist im Juli und August, wenn Hitze ganz Israel lähmt und hier oben ein frischer Wind weht. Hier schufen 17 Millionen Schekel Tatsachen auf ehemals syrischem Territorium. Geht die großzügige Anlage in die Verhandlungsmasse von Syrien und Israel ein? Geld oder Land oder Pacht? Die Bauherren jedenfalls scheinen sich am ehemals syrischen Gebiet, auf dem sie die Feriensiedlung errichteten, nicht gestört zu haben.
Das kleine Auto windet sich die Straße 98 hinauf. Westseits liegt die von der UNO überwachte entmilitarisierte Zone zwischen Syrien und Israel. Wir passieren einige Drusendörfer mit modernen hellen Häusern, weitflächigen Schulgeländen und offenen breiten Straßen. Maidel Shams. Mas'ada. In einem Restaurant an der Hauptstraße gibt es die „besten Falafel“ ... wie überall. Wir halten. Schon sitzen wir auf Plastikmöbeln am breiten Gehweg, essen sättigende Falafel und trinken frischen Orangensaft. Hinter uns tuckern Traktoren vorbei. Man fährt in den Blechkisten der einachsigen Anhänger die Apfelernte ein. Das vulkanische Tuffgebiet ist eine riesige Plantage. Die Böden, die Höhe und der Wind, das ist die Formel für die schmackhaften Äpfel. Der Wirt lädt zu einem Kaffee ein. Ein friedliches Nebeneinander, das Drusendorf und der Kibbuz? Doch da sind die akkurat ausgerichteten grünen Zelte im umzäunten Militärcamp, die Lastwagen und das Kriegsgerät. Der Übergang vom Hermon- zum Golangebiet. Irgendwo, hinter der UNO-Zone, ist Syrien, auf der anderen Seite eine eingezäunte israelische Siedlung. Der Kibbuz El Rom. Die erste Siedlung im besetzten Golan.
Unzählige weißblaue Nationalflaggen mit dem Davidstern, in dichtem Abstand auf die Zaunspitzen gesteckt, wehen im kräftigen Wind. Wem zeigen die Kibbuzim hier Flagge? Der UNO, den Syrern oder sich selbst? Ein trutziges Wehrdorf oder eine landwirtschaftliche Siedlung mit Plantagen und dürren Kühen auf steinigen Weiden? Bei der zerstörten syrischen Handelsstadt Quneitra gehen wir durch Steinwälle, die die Sicht verdecken und eine schnelle Anfahrt behindern, auf den weißen Wachturm mit der blauen UN- Fahne zu. Sperrgebiet. Der diensthabende Soldat stammt aus dem Burgenland in Österreich und berichtet, daß hier alles ruhig sei. Er zeigt auf die ferne Ruinenkulisse von Quneitra: „Jetzt gibt es dort wieder Geschäfte, in denen wir einkaufen können. Wir sind hier die einzigen Österreicher. Die anderen sind alle in Syrien. In dem Camp dort, in Sichtweite, liegen die Kanadier und Polen." Einsam steht der UN-Soldat auf der Hauptstraße von Damaskus nach Tiberias. In einer Autostunde wären wir in Syriens Hauptstadt. Aber davor ist nicht nur der weiße Wachturm mit der blauen Fahne.
Im Norden Israels ist jeder Zentimeter Boden geschichtsträchtig. Uri, unserer Reiseleiter, erzählt uns von den Wundern, die Abraham bei Tel Dan vollbrachte im Kampf gegen den Herrscher auf der Nimrod-Burg. Unbeachtet lägen am Weg Ausgrabungen. Die Schätze seien 5.000 Jahre alt. Vor Millionen Jahren war alles ein Bergland, vom Libanon über den Hermon bis zu den Golanhöhen, das rückte – und rückt noch – auseinander. In der Mitte bildete sich eine grüne Senke, durch die fließen die Quellflüsse des Jordan: das Hule-Tal. In den Bergen spien Vulkane Lava. Sie hinterließen Kraterseen und schwarze Böden, dort breiten sich Apfelplantagen aus.
Peter Merom flüchtete vor den Nazis nach Israel. Nun lebt er sei 30 Jahren im Kibbuz Kfar Blum am Rande des Hule-Tals. „Ich war 20 Jahre einfacher Fischer auf unserem See, 20 Jahre war ich professioneller Fotograf, und die letzten 20 Jahre habe ich mit aller möglichen Kunst gespielt.“ Merom erinnert sich, daß die Bewohner des Huletals fast jeden Tag von den Syrern auf den nahen Golanhöhen beschossen wurden, daß sie Gräben von einem Haus zum anderen zogen, um heil über die Straße zu gelangen. Doch Peter Merom ist sicher: „Es wird Frieden geben. Assad wird sagen: ,Nur bis hier, nicht weiter, sonst überhaupt nicht.‘ Letzten Endes, da er die Russen nicht mehr hat, muß auch er einen Kompromiß suchen.“
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