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Straßen-Talk-Show der Beleidigten

Politisch korrektes Erbrechen vor der „Treuhand der Barbaren“ – Volker Braun, der dialektische Nihilist, erfindet Dauerredner von der traurigen Gestalt, die in „Der Wendehals“ seine postsozialistischen Selbstgespräche führen  ■ Von Reinhard Mohr

Eine „Unterhaltung“ nennt Volker Braun euphemistisch sein jüngstes Werk, „Der Wendehals“. Es könnte auch ein Selbstgespräch mit verteilten Rollen sein, ein Traum oder eine Phantasie, ein surrealer Diskurs, eine Variation der „Flüchtlingsgespräche“ oder die Fortsetzung seiner alten Hinze- Kunze-Dialoge.

Als Fremde im eigenen Land, von der Geschichte verlassen und von der Gegenwart ausgestoßen – so laufen „Ich“ und „Er“ durch Berlin und schwadronieren, eher Kameraden des Schicksals als Antipoden eines Streits. Er, „Kollege Schaber“, ein alter Parteihengst aus der „Akademie der Wissenschaften“, wurde von der ominös allmächtigen „Kommission“ geprüft und abgewickelt. Nachdem er sich vergeblich bemüht hat, „dem Feind zu gefallen“, ist er nun in einer „Finanzakademie“ untergekrochen und läuft frisch gewendet als „Kaufmann des Ausverkaufs“ herum – ohne Ziel und Ideale, dafür mit verrenktem Hals.

Das Erzähler-Ich dagegen, von der „zahlungsunfähigen Geschichte“ schmählich verraten, lebt moralisch einwandfrei als Arbeitsloser dahin; innerlich abgewickelt zwar, doch froh und zufrieden, keine „dicken ausgedachten Erzählungen“ über unhaltbare Verhältnisse verfassen zu müssen, sondern nur eine Unterhaltung. Die vermeintlich leichte Übung gerät zur literarischen Schwerstarbeit. Denn alle konnotative Subtilität, alle assoziativen Sprünge und surrealen Szenerien können den Hautgout der Larmoyanz, den vorherrschenden Habitus der Verschmähten und Beleidigten, nicht überdecken.

Volker Braun, 55, Schriftsteller, Lyriker und Dramatiker, Brecht- Epigone und DDR-Nationalpreisträger 1. Klasse, galt bis 1989 als unbequemer Utopist, eine Art marxistisches Gewissen der real existierenden sozialistischen Staatskultur. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 unterzeichnete er jene berühmte Solidaritätsadresse für den singenden Dichterkollegen, beharrte aber zugleich darauf, keine „Kluft zwischen uns und unserer Partei (zu) konstruieren“.

Nach dem Erscheinen des Zyklus „Zickzackbrüste“ und des Stücks „Iphigenie in Freiheit“ (1992) nannte ihn Helmut Böttiger in der Frankfurter Rundschau den „authentischen Dichter der untergehenden DDR“, bei dem sich das Scheitern der sozialistischen Hoffnung in der Sprache selbst ausdrücke: „Eine langsam verkarstende Sprache, immer schütterer die Worte, monologisch, abgehackt; sie stehen unverbunden im Raum, und ihre Assoziationsflächen werden immer größer.“

Je aussichtsloser, desto hermetischer

Tatsächlich sperrt sie sich wie die letzte Wagenburg einer schon aufgelösten Glaubensgemeinschaft gegen die unvoreingenommene – zumal westlich geprägte – Lektüre. Je aussichtsloser die Sache erscheint, je treuer gleichwohl an ihr festgehalten wird, desto hermetischer ihre verbale Kodifizierung. Die wachsende Unverständlichkeit des Diskurses korrespondiert mit der Weigerung, ihn einer schonungslosen (Selbst-)Kritik auszusetzen. So verschweißt der semantische Geheimcode Prinzipien mit prinzipieller Skepsis, Überzeugungen mit einer zweiflerischen Identität zu einer kristallinen Monade, die sich nur selbst sprengen, im einzelnen befreien kann.

Anders als bei einer Polemik, einer aggressiven Rhapsodie, die Trauer in kunstvolle Attacken, diffusen Schmerz in treffsicheren Zynismus verwandelt, mutieren in Volker Brauns Straßen-Talk- Show der Verlierer selbst die zynischsten Äußerungen zur ressentimentgeladenen Wehklage. Weil das große „J'accuse“ nicht formuliert werden kann, legt es sich als uneingestandene, aber unüberhörbare Betroffenheitssuada über den gesamten Text.

Überall schimmert der psychologische Bumerang-Effekt durch die schmächtigen Zeilen: Die Sublimierung durch die Kunstanstrengung ist zu schwach, um die vagabundierenden Triebkräfte des historisch düpierten Subjekts ganz zu bändigen.

Dosenbier und Wahnsinn

Schon der höhnische Rückblick auf die Zeit, in der Ereignisse wie „die Öffnung der Mauer oder das Erscheinen des Dosenbiers mit dem Ausruf ,Wahnsinn!‘ begleitet wurden“, verrät das offene Ressentiment des Marxisten, für den die Freiheit des Individuums ein heuchlerischer Topos der bürgerlichen Weltanschauung ist.

Auf ihrer kleinen Zeitgeistreise durch den Dschungel der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft – vom Hütchenspiel über das KaDeWe und das opulente, politisch korrekt wiedererbrochene Mittagessen bis zum Müllcontainer, wo Marx, Lenin und Stalin gelandet sind, vom Strich auf der Oranienburger vorbei am U-Bahn-Pöbel ins Dienstgebäude, wo jetzt „Skins mit Schlips und Kragen“ herumlaufen – begegnen die beiden Dauerredner von der traurigen Gestalt auf Schritt und Tritt den Zerfallsprodukten der historisch-materialistischen Dialektik.

Arbeitslose können sich jetzt Ananas kaufen, Pepsi Cola formt die „New Generation“, und das betrogene Volk merkt gar nicht, daß es vor lauter Warenvielfalt vergessen hat, was ihm fehlt – woran freilich die „feuilletonistischen Ratten“ nicht ganz unschuldig sein mögen.

Zwischendurch extemporiert Schaber noch rasch die marxistische Kritik an der bürgerlichen Ideologie vom natürlichen, also vernünftigen Charakter all des „Rechnens, Schacherns und Balbierens“ – „Die Geldursprünglichkeit dreht und wendet die Fakten mit der Brachialgewalt des Geistes“ – und fragt nach dem Recht des Kollektivs: Wo bleiben das Volkseigentum, der „Gemein Besitz“, „der Boden, die Wälder, die Gewässer und die Gerätschaft der Werktätigen?“

Natürlich, all dies fiel der „Treuhand der Barbaren“ zum Opfer, dem dummen Volk, das betrogen sein will, und schließlich jener „höchsten Instanz“, die den hemmungslosen Voluntarismus predigt: „Mach, was dir beliebt“, das Credo des Konsumpluralismus. Gegen ihn scheint niemand immun. In einer dramatischen Szene umarmt Er „die gußeiserne Macht“ auf der Gertraudenbrücke, und ein paar Lichtstrahlen verkünden: Ja, sie hat ihn angenommen. Nun gehört auch Er dazu.

Kreuz und quer, vor und zurück geht es in Volker Brauns postsozialistischem Patchwork, in dem es von Metaphern und Bildern, Wortspielen und Aphorismen, philosophischen Anspielungen und verrätselter Symbolhaftigkeit wimmelt. Allein die beiden späten Flaneure der Wende, die noch einmal die klirrende Dialektik von Theorie und Praxis, Utopie und Staatspartei deklinieren, verheddern sich, Aristoteles und Hegel zitierend, selbst im letzten Dada der Beleidigten und Unterdrückten.

Die „Vorhut des Nachsehens“ als jammervolle Nachhut der Zukunft kommt nicht vom Fleck, und selbst der Kalauer beim Spargeltest – „Unsere Lehre ist allmächtig, weil sie gar ist“ – schmeckt holzig.

Der postrevolutionäre Dialog ist die Inkarnation einer Ratlosigkeit, die sich auch um den Preis völliger Stagnation nicht von ihrem dialektischen Nihilismus trennen will. Denn die Wirklichkeit gilt – wie oft in deutschen Landen – nichts gegen ihr Ideal. „Wenigerdestonichts“ lautet die letzte trotzige Antwort des Gesprächs. Erst ganz am Ende eine leise Ahnung praktischer Vernunft: „Lebe, so gut du kannst.“

Volker Braun: „Der Wendehals. Eine Unterhaltung“. Suhrkamp Verlag, 127 Seiten, geb., 34 DM

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