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Stollen voller Schätze

■ Ernst Cassirers 50. Todestag und die Neueröffnung der Bibliothek Aby Warburgs erinnern an zwei große Denker

Eine Bronzebüste irgendwo auf den Universitätsfluren allein reicht nicht, um Erinnerung lebendig zu halten – also muß der Philosoph Ernst Cassirer erst wieder ins Gedächtnis gerufen werden. 1929/1930 war der Neukantianer Rektor der Hamburger Universität, der er seit ihrer Gründung 1919 angehörte. Er war damit nur drei Jahre vor Verbot, Vertreibung und Vernichtung aller jüdischen Geistigkeit der erste jüdische Rektor einer deutschen Universität überhaupt. Am 13. April vor fünfzig Jahren starb der 1874 in Breslau geborene erklärte Republikaner Ernst Cassirer im Exil in New York.

1930 hatte er noch gegen die NS-Verbände eine offizielle Feier zur republikanischen Verfassung durchgesetzt, bis zuletzt hoffend, daß der Staat als Ganzes ein Raum sei, in dem man Gegensätze austragen und ertragen könne. Seine Überlegungen zur Aufklärung in der Renaissance, die er an Nikolaus von Kues (1401-1464) festmachte, seine Vermittlung von Kant und Leibniz, nichts vermochte den nationalen Wahn im Universitätskontext zu stoppen. Cassirer forschte intensiv über das mythische Denken, verstand dies aber immer im Sinne der Aufklärung. Im Spätwerk Myth of the State analysierte und verurteilte er im Exil den allgegenwärtigen Totalitarismus.

Der Philosoph stand in engem Kontakt zu einem anderen Mythen-, Kultur- und Bilderforscher in Hamburg: Aby Warburg. Um dessen „Kulturwissen-schaftliche Bibliothek Warburg“ (KBW) versammelte sich in den 20er Jahren ein in Hamburgs Geistesgeschichte einmalig herausragender Kreis. Cassirer wurde der fruchtbarste Autor der von der KBW herausgegebenen Schriften.

Auf ihn wirkte diese besonders organisierte Bibliothek wie ein Bergwerksstollen, in dem vergrabene Schätze schimmerten. Seine Publikationen und das dreibändige Werk Philosophie der symbolischen Formen entstanden als Vorträge an der KBW oder wurden mit der zwischen 1920 und 1933 auf 60.000 Bände angewachsenen Bilbliothek erarbeitet.

Aber nicht nur Sachwissen allein verband die beiden Denker: Cassirer besuchte Warburg 1924 im Kreuzlinger Sanatorium, und dieser publizierte 1928 im Hamburger Fremdenblatt „Warum Hamburg den Philosophen Cassirer nicht verlieren darf“. Nach der Rückkehr von seinem sechsjährigen Sanatoriumsaufenthalt begann Aby Warburg neben seinem übervollen Wohnhaus mit der Errichtung eines eigenständigen Bibliotheksbaus durch den von Fritz Schumacher empfohlenen Architekten Gerhard Langmaack. Zentrum ist der Lesesaal in der Gegensätze vereinenden Form der Ellipse, deren universellen Symbolismus Warburg einst mit Cassirer besprochen hatte.

1926 wurde die neue KBW eingeweiht, 1929 starb ihr Gründer. Insgesamt waren der Institution in Hamburg nur sieben Jahre beschieden, 1933 gingen fast alle Bücher, Teile der Einrichtung und die wissenschaftlichen Mitarbeiter nach London, wo das der Universität angegliederte Warburg Institute bis heute eine weltweit geachtete Facheinrichtung wurde.

Aus der zwölffach unterteilten Oberlichtellipse des Lesesaals ist jetzt das Signet der „Aby-Warburg-Stiftung“ abgeleitet, die 1993 gegründet wurde. Im gleichen Jahr kaufte die Stadt Hamburg nach über sechzigjähriger Zweckentfremdung das Gebäude und richtete es als Studienort wieder her. Der teilrekonstruierte Lesesaal bildet wieder das historische Herzstück des erneuerten Denkortes in der Heilwigstraße 116, der danach unter anderem das Aby-Warburg-Archiv des kunstgeschichtlichen Seminars beinhalten wird und mit zahlreichen Aktivitäten von Stipendien bis zu Vortragsreihen die Tradition lebendig fortsetzen will. Am morgigen Donnerstag kann staatsmännisch Eröffnung gefeiert werden. Aus diesem Anlaß wird erneut eine Brücke zwischen Warburg und Cassirer geschlagen: Die Festvorlesung wird Jürgen Habermas über „Ernst Cassirers humanistisches Erbe“ halten.

Warum überhaupt soviel Erinnerung an philosophische und kulturgeschichtliche Ordner symbolischer Formen heute, auch unabhängig von runden Daten? Man muß nicht erst Umberto Ecos Der Name der Rose erwähnen, um die besondere Bedeutung von Bibliothekssammlungen an einer Zeitenwende zu betonen. Vielleicht sind das individuelle Sortieren und Neubewerten am Ende des Jahrhunderts und Jahrtausends, die suchende Erinnerung an die eigentlichen Strukturen hinter der ganzen so flapsig „postmodern“ genannten Bilderflut und den willkürlich ökonomisch besetzten Bedeutungsangeboten eine entscheidende Scharnierstelle für zukünftigen Aufbruch. Hajo Schiff Ringvorlesung Ernst Cassirer: jeden Mittwoch, 18.15 Uhr, Hörsaal D, Philturm, Von-Melle-Park. Festvorlesung „Ernst Cassirers humanistisches Erbe“ durch Jürgen Habermas, morgen, 16 Uhr, im Audimax. Seit heute sind auch die erweiterten Beiträge zu den Aby-Warburg-Wochen von 1994 erschienen: „Aby M. Warburg – Ekstatische Nymphe...trauernder Flußgott, Portrait eines Gelehrten“, hrsg. v. Robert Galitz und Brita Reimers, Dölling und Galitz, 264 Seiten, 80 Abb., 48 Mark.

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