Berliner Tagebuch: „Faust“ und Wecker
■ Berlin vor der Befreiung: 20. April 1945
Foto: J. Chaldej / Voller Ernst
Frühlingsnacht mit Mondlicht und eilenden Wolken. Sechsmaliger Vollalarm. Nachtlager im Keller. Weder Licht noch Gas, noch Wasser, noch Sirenen. Die Ansammlung schlafender, erschöpfter Menschen hat etwas merkwürdig Unwirkliches. Eine Mischung von Skihütte, Jugendherberge, Revolutonskeller und Operninszenierung. Die meisten versuchen zu schlafen, während draußen eine neue Epoche beginnt... Es ist dunkel. Flüstern, Lachen, Schnarchen. Eine Kinderstimme, die immer wieder sagt: „Erzähl mir doch ein Märchen, lies mir doch ein Märchen vor!“ Letzteres völlig absurd bei der Stockfinsternis, die herrscht. Als Geräuschkulisse nicht mehr der immer verstimmte H-Dur- Dreiklang des Drahtfunks, sondern eine eilfertig tickende Weckeruhr aus einem Rucksack. Ist es nicht typisch deutsch, daß in solchen Augenblicken neben Zahnbürste, Ausweis mit Lichtbild und Goethes „Faust“ auch der Wecker gerettet wird? Karla Höcker
Zitiert aus: Karla Höcker, „Die letzten und die ersten Tage“, Berlin 1966. Karla Höcker ist freie Schriftstellerin und Musikjournalistin.
Recherche: Jürgen Karwelat
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