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Veritabler Triumph des Genies

Beim Dortmunder UEFA-Cup-Ausscheiden gegen Juventus Turin (1:2) erhält der Kollektivismus eine geniale Absage Marke Baggio  ■ Aus Dortmund Christoph Biermann

Wahrscheinlich ist das Fußballstadion der letzte Ort, an dem das Wort Kollektiv noch ohne Hüsteln, verlegene Blicke und Ansätze zu ausladenden Erklärungen ausgesprochen wird. Zumal von Männern, die ihrem Beruf in teures Tuch gehüllt nachgehen. Wie etwa Marcello Lippi, der ganz dem italienischen Stil folgend eher wie ein Aufsichtsratsmitglied denn wie der Trainer einer Horde kurzbehoster Männer wirkt. „Fällt bei uns ein Spieler wie Baggio oder heute Vialli aus“, so erklärte der Fußball- Lehrer von Juventus Turin entspannt den staunenden Zuhörern, nachdem sein Team mit dem 2:1 (nach Heim-2:2) doch noch das UEFA-Pokalfinale erreicht hatte, „dann kommt bei uns das Kollektiv zum Zuge.“ Und nickte dann seinem Kollegen Ottmar Hitzfeld zu: „Wie bei Borussia Dortmund auch.“

Kollektiv ist also, so lernten wir da, wenn die Stars verletzt sind. Und wie er so nickte, wies Lippi Borussia Dortmund den Part der kollektivistischsten Mannschaft des Abends zu. Als nach einer Stunde Dortmunds Brasilianer Julio Cesar unter tosendem Beifall vom Platz humpeln mußte, verblieben nämlich nur noch vier Spieler auf dem Platz, die zu den ersten Elf der Borussia gehören. Sammer, Möller, Riedle gesperrt, Chapuisat und Povlsen schwer verletzt, Kree und Kutowski leicht verletzt, Reinhardt und Cesar angeschlagen ausgewechselt, da waren's neben Torwart Klos, Freund, Zorc und Reuter nur noch Spieler aus dem zweiten, dritten Glied oder gar wackere Nachwuchskicker. Kollektiv total!

Zu diesem Zeitpunkt stand es 1:2, und immer noch hatten sich die Kollektiv-Borussen nicht aufgegeben, warfen sich ihren Gegnern entgegen, bestürmten eifrig das Turiner Tor und – das konnte man ihnen wirklich nicht absprechen – spielten sogar sehr ansehnlich. Und wer weiß, wie das alles geendet hätte, wenn Linienrichter Kloeg den Ball von Ibrahim Tanko nicht im Aus gesehen hätte, der dort nun wirklich nicht war. So winkte er aber bereits mit seinem gelben Fähnchen, als Lars Ricken die Flanke gerade ins Tor wuchtete und auch noch, als das Westfalenstadion sich in den Armen lag und sogar Stephane Chapuisat zu den Krücken griff, um sich zum Jubeln aufzurichten. Aber da waren der Linienrichter und Schiedsrichter van der Ende vor, und wieder einmal sackte das deutsch-holländische Fußball-Verhältnis ein Stückchen weiter ab. „Juve und der Holländer“, höhnte die Südtribüne wütend. War doch sowieso klar!

Irgendwie konnten die Borussen an diesem Abend halt machen, was sie wollten, man ahnte immer, daß es mit dem UEFA-Cup-Finale nichts werden würde. Daran vermochte auch Ibrahim Tanko nichts zu ändern. Der Ghanaer, der in Dortmund schon so lange als 17jähriger geführt wird, daß er damit einen Rekord aufstellen könnte, war laut Ottmar Hitzfeld der „quirligste“ Spieler. Tankos Mannschaftskamerad Stefan Reuter sortierte ihn sogar kurzerhand in die „Weltklasse“ ein, was zwar etwas übertrieben war, aber berechtigte Wertschätzung dokumentierte. Mit Tankos beeindruckendem Auftritt war dann auch einmal mehr bewiesen, was planvolle Einkaufspolitik vermag. Denn eigentlich hatte man Tanko vor zweieinhalb Jahren – so ähnlich wie bei der Fischauktion („Und die Makrele gibt's noch dazu!“) – vor allem deshalb verpflichtet, damit sein Landsmann Mallam nicht allein war.

Tanko hin, Kollektiv her, Juventus Turin wankte wohl, war aber vom tatsächlichen Kippen schlußendlich noch weit entfernt. Und Juve war auch die Mannschaft, die für einen solchen Höhepunkt des Spiels sorgte, daß sogar bei Ottmar Hitzfeld die Grammatik ins Trudeln geriet. Als nämlich „Roberto Baggio der Freistoß schoß und in den Winkel zirkulierte“. Wow! Jedenfalls schoß der Buddhist mit dem Pferdeschwanz nach einer halben Stunde einen Freistoß mit unglaublicher Präzision über die Mauer hinweg in das Tordreieck.

Nun hört man zwar den kollektiven Aufschrei, sehr viel mehr habe das Individuum Baggio nicht zum Spiel beizusteuern gewußt. Dazu wäre zu antworten: Wozu? Schließlich war's das auch schon. Weshalb nach dem Spiel im rollenden „Centro Juve“ vor dem Stadion die Baggio-Mannschaftskapitänbinden in den Vereinsfarben der fernöstlichen Religion weggingen wie warmes Manna. Und womit wohl außerdem hinlänglich geklärt sein dürfte, daß religiöse Erweckung dem Kollektiv überlegen ist.

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