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Anarchie hinterm Eisenvorhang

Das Theaterhaus Jena – eine Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung  ■ Von Miriam Hoffmeyer

Um die Ruine ist es still. Ein Besessener rüttelt an den Gitterstäben seines Käfigs, zwei unheimliche Augen glühen auf. Dracula, der transsilvanische Graf, hat den Weg von Hollywood nach Thüringen gefunden. Es war ein steiniger Weg. Nach endlosen Debatten einigte sich das abgekämpfte Ensemble des Theaterhauses Jena in den frühen Morgenstunden vor der Premiere, am Abend nur eine Voraufführung zu geben. Viel Kunstblut wird noch die schräge Bühne herabfließen, bis der unfertige „Dracula“ entweder abgesetzt wird oder doch noch eine echte Premiere steigt. Ein Teil des Kampfgeistes, mit dem die fröhlichen Anarchisten in Jena sich ihr Theater und beträchtliche öffentliche Zuschüsse errungen haben, fließt jetzt in Grabenkämpfe innerhalb des Hauses. Ein altes und ein neues Mitbestimmungsmodell stehen gegeneinander. Aber wie immer sich das Theaterhaus entwickelt, aus Jena ist es nicht mehr wegzudenken.

Im Büro der Dramaturgin Sylvia Gawehn steht ein Pappmodell unter Glas, ein klotziges Plattenungetüm. So hätte das „Schiller- Theater“ ausgesehen, das die Geraer Bezirksverwaltung an die Stelle des alten Gebäudes bauen wollte. 1986 wurde vorsorglich schon mal der Zuschauersaal abgerissen, aber die damalige DDR- Hauptstadt Berlin rückte kein Geld für den Neubau heraus. So blieb das Bühnenhaus allein stehen. Die alte Bühne ragt auf einen großen gepflasterten Platz hinaus, ihr eiserner Vorhang trennt Außen- und Innenwelt. In der Vorderwand des Gebäudes bilden neue Ziegel hektisch-rote Flecke – dort ist den Abrißbaggern die Schaufel ausgerutscht.

Im Herbst 1989 brachte Silvia Gawehn zusammen mit einer Bühnenbildnerin Leben in die Theaterruine. Die Bühnenräume wurden entrümpelt, ein „Theater auf der Hinterbühne“ geschaffen, in dem Studententheater und Gastspiele aus Westdeutschland gezeigt wurden. Nach der Vereinigung war das Grundstück mitten in der Innenstadt auf einmal acht Millionen wert, ein Kaufhauskonzern meldete Interesse an. Die Kampagne „Kaufhaus oder Theater“ spaltete die Stadt, das Theater trug den Sieg davon. 1991 wurde auf ABM- Basis ein festes Ensemble engagiert: zehn Schauspieler und zwei Regisseure, alle Absolventen der Berliner Ernst-Busch-Schule. Das junge Ensemble war hemmungslos begeistert von der anziehenden Häßlichkeit des Spielorts. Die Technik ist noch völlig intakt: Die Drehbühne dreht sich, der eiserne Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf das nächtliche Jena. „Kommunikation“ wurde zum Zauberwort des Regisseurs und künstlerischen Geschäftsführers Sven Schlötcke: Das Theater ist offen zur Stadt, das Publikum so nah bei den Schauspielern, wie es nur geht.

In jeder Inszenierung sitzen die Zuschauer an einer anderen Stelle des Raums. Die bewegliche Tribüne hat 150 Plätze, aber manchmal – wie bei dem Christoph-Hein- Projekt „Die wahre Geschichte des Ah Q“ – werden die Zuschauer auch auf Matratzen und Teppichen plaziert. Und in dem Improvisationsstück „Erfolg Erfolg Erfolg“ sitzen sie auf Platzkategorien verteilt, vom bequemen Parkettsitz bis zum Stehplatz des armen Shluckers. In den langen Theaternächten der Anfangszeit folgte das Publikum den Schauspielern durch die gewundenen Gänge des Hauses – vom Bühnenturm zur Unterbühne, zum winzigen, mit rotem Samt ausgekleideten Malsaal, dem Raum für Solostücke.

Ein Magnet mit anarchistischem Flair

Im November 1991 hatten die ersten sechs Aufführungen des Ensembles Premiere. „Wir haben produziert wie die Teufel“, erinnert sich Silvia Gawehn. „Und mit unserem anarchistischen Flair waren wir ein Magnet von Anfang an.“ Auch heute noch sind die Plätze zu neunzig Prozent ausgelastet. Die meisten Besucher sind Studenten. Direkt gegenüber dem Theater ragt der klotzige runde Universitätsturm – „die Keksrolle“ oder „Penis Jenensis“ – empor. Ältere Zuschauer machen sich rar. Wenn die Jenenser das kleine Schwarze und den guten Anzug ausführen wollen, fahren sie nach Gera, Altenburg oder ins Nationaltheater Weimar. Früher kamen die Bühnen der Nachbarstädte nach Jena: In den vierzig Jahren vor dem Abriß des Zuschauerraums wurden dort nur Gastspiele gezeigt. Heute ist das Theaterhaus der unbestrittene kulturelle Glanzpunkt des 100.000- Seelen-Städtchens. Sonst erschöpft sich das kulturelle Leben Jenas in der Philharmonie, einem einzigen Kino, einem kleinen Tanztheater und ein paar studentischen Aktivitäten.

Trotzdem gab es immer wieder Querelen zwischen dem Theater und der Stadt. 1993 scheint mit dem Auslaufen der ABM-Verträge die Existenz des Projekts gefährdet. Erst nachdem sich Heiner Müller, Frank Castorf, Roberto Ciulli und ganze Belegschaften deutscher Theater für den Fortbestand eingesetzt hatten, wurde die Jenaer Theaterhaus GmbH gegründet, genannt „Gesellschaft mit beschränkter Hoffnung“. Dreizehn der inzwischen dreißig Mitarbeiter werden Gesellschafter. Für 175 Vorstellungen im Jahr zahlt die Stadt Jena 1,3 Millionen Mark, Thüringen gibt dieselbe Summe dazu. Anfang dieses Jahres wurde der Vertrag um fünf weitere Jahre verlängert. Auch eine undurchsichtige Provinzposse über die Verpachtung der Theaterkneipe endete zugunsten des Theaters.

Muß sich nun künstlerisch beweisen

Die neuen Probleme kommen von innen. Das Mitbestimmungsmodell in Jena folgt dem Vorbild der frühen Schaubühne und Roberto Ciullis Mülheimer Theater an der Ruhr. Bis 1994 entschied das gesamte Ensemble gemeinsam über künstlerische wie über Verwaltungsfragen. „Die Ensembledemokratie hat unheimlich viel Zeit zum Arbeiten weggenommen“, meint Sylvia Gawehn. Deshalb wurden mit der künstlerischen Leitung schließlich doch wieder hierarchische Strukturen eingeführt. Aber die Schauspieler, die seit langer Zeit in der „Triebwerk“- Reihe des Theaters eigene Soloprojekte verwirklichen, sind daran gewöhnt, mitzureden. „Daß die Schauspieler sich auch als Regisseure und Autoren versuchen dürfen, ist ja auch das Innovative“, meint Sylvia Gawehn.

Aus diesen Spannungen erklärt sich wohl das Debakel mit „Dracula“, dem Lieblingsprojekt des Regisseurs Itamar Kubovy, der Bram Stokers Roman dramatisiert hat. Die Aufführung schwankt unentschieden zwischen Klamotte und Seelendrama, die Reise ins Dunkel der Triebe harmoniert schlecht mit den grotesken Bluttransfusionen und knoblauchbewehrten Trauungszeremonien. Nach all den experimentellen Inszenierungen wirkt die Vampirgeschichte merkwürdig brav. Das findet auch der Leiter des Kulturamts Jena, Norbert Reif: „All diese Kämpfe haben vielleicht Kraft gekostet, aber auch viel Solidarität geschaffen, das ist nun vorbei. Jetzt muß sich das Theaterhaus künstlerisch beweisen.“

Fünf verschiedene Schlüsse hat das Ensemble für „Dracula“ ausgearbeitet: zwei tragische, zwei offene und ein Happy End. Noch hat man sich für keinen endgültig entschieden. Die Fähigkeit zum raschen Wandel ist jedoch eine der großen Qualitäten dieses Theaters. Die stürmische Geschichte des Theaterhauses Jena ist noch lange nicht abgeschlossen. Aber wahrscheinlich wird sie auf ein Happy End hinauslaufen.

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