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Nachschlag

■ Reality Theater mit Aktualisierungsstufe: Wolfgang Bauers „Silvester“ in der FU-Studiobühne

Seit zwei Jahren ist dem Dramatiker Wolfgang Bersenegger nichts mehr eingefallen. Sein letzter Ausweg: per Videokamera die eigene Silvesterparty aufzuzeichnen und die Kassette dann zu seinem neuen Werk zu erklären. Dessen Bühnentauglichkeit garantiert die Gästeliste: Lauter begnadete Selbstdarsteller versammeln sich im Hotel Sacher. Schwätzer verkaufen sich als Künstler, egomanische Schauspieler als Genies, überdrehte Ehefrauen als Vamps. Mit jedem neuen Gast steigt das Tempo der hektischen Selbstinszenierungen, immer irrwitziger dreht sich der kleine Kosmos um sich selbst. Dann plötzlich ein Schuß, Neujahrsglocken läuten, der Spuk ist vorbei.

Bei der Uraufführung 1971 löste Wolfgang Bauers „Silvester oder das Massaker im Hotel Sacher“ einen Theaterskandal aus. Die Empörung des österreichischen Publikums galt nicht nur den paar obszönen Ausdrücken, sondern vor allem der Gnadenlosigkeit, mit der der Kulturbetrieb vorgeführt wird. Der totale Kunst-Kommerz hat sich in den letzten zwanzig Jahren nicht groß verändert, die Vermarktung jeder menschlichen Regung dagegen eröffnet ganz neue Dimensionen der Selbstdarstellung. Peter Lüders Inszenierung an der FU-Studiobühne holt Reality und TV in ein Stück, das Theater und Wirklichkeit miteinander verschmilzt. Mal mutiert der machtbewußte Intendant (Olaf Stögersbach) auf der Bühne zum talkenden Willemsen-Double, mal zeigt Berseneggers Bildschirm echte Fernsehbilder. Die fiktive Wirklichkeit verdoppelt und bricht sich im Videogerät: Kaum hat einer der Partygäste den Faust-Monolog rezitiert, läßt der Intendant die Aufnahme davon zurückspulen und noch einmal vorführen. Aber das Video schafft auch Raum für die Wahrheit hinter den Masken: Auf der Bühne windet sich die Schauspielerin Sophie (Claudia Maria Wohlbang) – die einzige, die noch ernsthaft an die Heiligkeit der Kunst glaubt – in stummen qualvollen Krämpfen, auf dem Bildschirm spricht sie scheinbar ungerührt ihren Text. Am Ende führt eine Sadomaso-Szene mit anschließendem Selbstmord drastisch vor, wie selbst Sex und Tod zur Inszenierung verkommen. Trotz all der komplizierten Spiegelungen und Brechungen vergessen die Schauspieler nie, daß „Silvester“ auch eine Salonkomödie ist. Nach einer Probenzeit von nur fünf Wochen sind die studentischen Laien schauspielerisch fast auf der Höhe der Profis, die das Ensemble ergänzen. Ihre witzigen Wortgefechte und wüsten Ausbrüche lassen die Zuschauer kaum zu Atem kommen. Party on! Miriam Hoffmeyer

Bis 13. Mai mittwochs bis sonntags um 20.30 Uhr im Checkpoint, Leipziger Straße 55, Mitte

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