: Wohin der graue Bus wohl fuhr?
■ „Irrenpflege“ in der NS-Zeit, dokumentiert im Neubau des Krankenhaus-Museums Bremen-Ost
Nein, nein! Das finden sie ungerecht, die vier alten Damen, die sich die Ton-Dia-Schau über die Bremer Nervenklinik im Nationalsozialismus angesehen haben. Ihre Häuschen im Oewerweg eine „SA-Siedlung“! Unfug! Die Siedlung haben ihre Männer und Väter 1938/39 gebaut. „Das war doch die Pflegersiedlung!“ Sicher, ihre Männer und Väter, Pfleger in der Nervenklinik in Osterholz, waren in der SA, aber nicht freiwillig! Und gewußt hat sowieso niemand etwas. Von den Tötungen. Eine hat ja mal aus der Anstaltsküche heraus so einen grauen Bus der Krankentransport GmbH beobachtet. Aber wohin der fuhr? Wer wollte das so genau wissen!?
Einer, der es genau wissen will, ist Achim Tischer. Er leitet das Krankenhaus-Museum Bremen-Ost, das sich 1987 zur Aufgabe gemacht hat, die Geschichte dieser Anstalt auch in ihren unrühmlichen und grauenhaften Aspekten zu erforschen. Gestern hatte Tischer seinen großen Tag: Das Krankenhaus-Museum konnte neu eröffnen in den wahrlich großzügig gestalteten Räumen der ehemaligen Beschäftigungstherapie (davor: Jungviehstall). Gleichzeitig schloß das Haus eine erhebliche Lücke in der Chronologie der Anstalt: die Jahre zwischen 1933 und 1945.
1.500 Bremer Patientinnen und Patienten wurden in Bremen nach 1934 zwangssterilisiert, wie es das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vorsah. 983 wurden von Bremen aus deportiert, 708 starben, 409 wurden in den Tötungsanstalten Hadamar, Meseritz u.a. ermordet. Anfang 1940 wurden in Bremen selbst nachweislich vierzehn Psychiatriepatienten umgebracht. Es gibt einen erschütternden Bericht von Martin N. aus Meseritz, wo die Patienten mit den Worten empfangen wurden: „Wer nicht arbeitet, den füttern wir nicht lange.“ Martin N. weiß von Handwagen voller nackter Leichen zu berichten. Vom Bremer Transport starben in den ersten Wochen 80, in Bremer Zeitungen häuften sich die Todesanzeigen, so daß sich die Leute schon wunderten. Doch sie fragten nicht. Niemand habe, so Martin N., aus Bremen in Meseritz nachgeforscht.
Man kann sich die Ergebnisse der Forschungen von Tischer und Mitarbeitern in einer stillen und sehr sachlichen Ton-Dia-Show präsentieren lassen: „Gesundheit ist Pflicht“. Der Bremer Trompeter Uli Beckerhoff hat sich an dem schwierigen Unterfangen versucht, die Schau musikalisch zu begleiten, was nicht gut gehen kann. Welche Musik kann den Bericht über die 1940 eingeführten Meldebögen begleiten, in denen es hieß: „Selten zum Bohnern zu bewegen“ und deshalb „nutzlos“? Welche chromatischen Phantasien reichen für tausend Sterilisierte oder vierzehn Ermordete? Fürs Herz braucht man die Musik hier nicht. Man hat hier genug fürs Herz.
Das Museum selbst hätte mit dem Instrumentarium der „Irrenpflege“ leicht eine Gruselkammer füllen können. Doch die kluge Ausstellungskonzeption verbindet Originalinstrumente und Dokumente aus fast hundert Jahren Bremen Irrenhausgeschichte mit Begleittexten zu einer unspektakulären Schau, in der vor allem eins frappiert: das Alltägliche am Irrenhausalltag. Das steht ein Bett wie alle Krankenhausbetten. Da steht eine kleines Gerät im Nachriegsdesign und ist doch das Elektroschockgerät von Siemens. Ein winziger Knopf mit Schild: „Auslösung“. Da hängt eine Wandtafel für den Schulunterricht von 1936, darauf werden die mendelschen Vererbungsgesetze am Beispiel des „minderwertigen Erbgutes“ demonstriert – „Verbrecher, Idioten, Landstreicher und Alkoholiker“ verderben den sich verästelnden Stammbaum. Eine Schwesterntracht, gegürtet von einer Art Hundeleine, an der hängt eine Trillerpfeife. Ein Holzstuhl mit Nackenstütze zur Ganzkörperfixierung.
Die Täter haben einen Namen, heißen Dr. Walter, Dr. Steinmeyer, Dr. Kaldeway. Grauenhafte Mediziner. Die Opfer heißen Maria M., Martin N. Die Familien wollen den Namen der über ein halbes Jahrhundert Namenlosen nicht öffentlich machen. „Die, deren Existenz aufgelöst, vergessen war, haben ein Recht auf die Wahrheit,“ sagte Professor Haselbeck zur Eröffnung des „neuen“ Krankenhausmuseums. Der Name gehört zur Existenz dazu. Burkhard Straßmann
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