: Drehbücher aus dem Knast
■ Islamische Filmproduktion geht eigene Wege / Gleichzeitig entstehen neue düstere Großstadtfilme - Bericht vom 14. Internationalen Filmfestival in Istanbul
Die blanken Zahlen scheinen zunächst nichts als die üblichen gedämpften Aussichten zu präsentieren, wie sie sich dem europäischen Kino allenthalben darstellen. 1994 wurden überhaupt nur noch 35 abendfüllende Spielfilme produziert, von denen dann ganze 16 es bis auf eine öffentliche Leinwand schafften – 1993 waren es immerhin noch 82 gewesen. Unter den 175 Filmen, die letztes Jahr in den dreihundert türkischen Kinos liefen, kamen 122 aus den USA. Die Distribution ist fest in den Händen der Majors, die locker ihre eigenen Vorstellungen darüber, welche Filme wo und wie lange laufen, auf nationaler Ebene durchsetzen können. Die lahmende Ökonomie hat nicht nur die staatliche Subventionierung versiegen lassen, sondern auch die Vorankäufe des öffentlichen und privaten Fernsehens, denen eben ihrerseits die Einkünfte fehlen.
Filme gegen den Laizismus
Den größten Inlandserfolg, und das ist wohl kaum ermutigender, hatte eine islamische Produktion mit dem Titel „Wie können wir uns das ersparen?“ von Metin Camurcu. Diese Filme entstehen in einem eigenen Produktions- und Distributionssystem, dem es aufgrund eines starken finanziellen Hintergrunds offenbar gelingt, in den Kinos wirklich präsent zu sein.
Ziel ist die Wiedereinführung des Islam in die Kultur, aus dem er durch den laizistischen Kemalismus lange verbannt war. Interessanterweise erreicht er seine Zielgruppe: 70 Prozent der Zuschauer sind genau die Jugendlichen, vor denen die Mullahs immer gewarnt haben, die angeblich nur noch von Kim Basinger und Pepsi Cola träumen.
Das Fernsehen hilft ganz ungemein
Man sollte meinen, in dieser Lage wächst kein Gras mehr. Seltsamerweise ist das nicht der Fall. Wie auf dem Festival zu sehen war, gibt es eine ganze Reihe widerborstiger und begabter Jungtalente, die sich nach wie vor mit Hilfe des Fernsehens über Wasser halten: Allein in 1994 wurden 443 sowohl klassische als auch aktuelle türkische Filme ausgestrahlt.
Ömer Kavur, vielleicht der brillanteste dieser jungen Garde, hat eine Stiftung ins Leben gerufen, die den Nachrückenden Hilfestellung bei der Produktion geben soll. Er selbst arbeitet zur Zeit an seinem nächsten Film, „Die Turmuhr“, nachdem er vier Jahre lang das Budget organisiert hat. Sein Debüt „Das geheimnisvolle Gesicht“ erzählt eine zauberhafte mystische Liebesgeschichte in den Worten des 18. Jahrhundert-Dichters Eddin Roumi. Wegen der Qualität dieses Films hat ihm Eurimages, die europäische Filmförderanstalt der EG, eine Produktionsförderung zukommen lassen – eine Quelle, auf die in den nächsten Jahren sicherlich noch mehr Filmemacher werden zurückgreifen müssen.
Durchaus umtriebig ging es auch auf dem Festival selbst zu: An die 1.200 Menschen standen um Karten an, um die Filme zu sehen, die eine Jury unter der Leitung von Nagisa Oshima zusammengestellt hatte. Die höchste Auszeichnung, die goldene Tulpe, ging an den tunesischen Film „Silences du Palais“, eine relativ risikoarme Darstellung präkolonialer tunesischer Verhältnisse.
Saxophonist als Selbstmörder
Viel interessanter war dagegen der prämierte türkische Film „Spuren“ ein ziemlich aggressives, schattiges Großstadtporträt, in dem Seiten von Istanbul zu sehen sind, die jenseits aller orientalistischen oder sonstwie gängigen Vorstellung dieser Stadt liegen. Erzählt wird die Geschichte eines Polizisten, der versucht, den Selbstmord eines Saxophonisten aufzuklären, dessen Gesicht nicht mehr zu identifizieren war. Auf seiner Suche anhand eines Fotos gerät er in den nächtlichen Großstadtmoloch und kann bald nicht mehr identifizieren, welches reale und welches phantasierte Ängste sind.
Von mehr dokumentarischem, aber keineswegs weniger komplexem Zuschnitt war „Der Job“, geschrieben im Gefängnis von Drehbuchschreiber und Regisseur Faik Ahmet Akinici. Eine multinationale britische Firma sperrt in Südanatolien eine Baustelle ab. An den Zäunen stehen Hunderte von Arbeitslosen, die alle Tricks der Welt probieren, um eingestellt zu werden. Täglich gibt es, weil die Firma nicht in Sicherheitsvorkehrungen investiert, tödliche Unfälle. Man beschließt, die Verunglückten durch ihre Verwandten zu ersetzen, um so deren Regreßforderungen aus dem Weg zu gehen. So sehen sich die Angehörigen in der schmerzvollen Lage, auf den Tod ihrer Brüder, Vettern, Väter geradezu zu lauern. Filmisch ein Verwandter von Gianni Amelios „Lamerica“ basiert „Der Job“ auf einem realen Fall ... Özay Ilic
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